Drogen-Elend in Altona immer schlimmer: „Familien trauen sich hier nicht mehr hin“
Wo sich früher vor allem die Obdach- und Hoffnungslosen, die Alkoholiker und Kleindealer versammelten, hat nun eine andere Klientel den öffentlichen Raum übernommen: Am S-Bahnhof Holstenstraße und in seiner direkten Umgebung betteln Crack-Süchtige Passanten um Geld an, ziehen in aller Öffentlichkeit an ihren Pfeifen und durchleben ihren Rausch vor aller Augen. Gastro-Besitzer vor Ort berichten der MOPO, dass sie an manchen Tagen mehrfach die Polizei rufen müssen und Familien wegen der Drogensüchtigen nicht mehr bei ihnen essen wollen. Und selbst in der ursprünglichen Eckensteher- und Drogenszene traut man der neuen Gruppe nicht über den Weg.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Unbeschränkter ZugangWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen
Wenn Sie E-Paper Kunde sind, betrifft diese Änderung Sie nicht.
Wo sich früher vor allem die Obdach- und Hoffnungslosen, die Alkoholiker und Kleindealer versammelten, hat nun eine andere Klientel den öffentlichen Raum übernommen: Am S-Bahnhof Holstenstraße und in seiner direkten Umgebung betteln Crack-Süchtige Passanten um Geld an, ziehen in aller Öffentlichkeit an ihren Pfeifen und durchleben ihren Rausch vor aller Augen. Gastro-Besitzer vor Ort berichten der MOPO, dass sie an manchen Tagen mehrfach die Polizei rufen müssen und Familien wegen der Drogensüchtigen nicht mehr bei ihnen essen wollen. Und selbst in der ursprünglichen Eckensteher- und Drogenszene traut man der neuen Gruppe nicht über den Weg.
Männer und Frauen sitzen zusammengesunken auf dem Boden, versammeln sich in der Ecke neben dem Geldautomaten, manche liegen mitten im Durchgang. Sie streiten, rauchen, manche dämmern vor sich hin. Eine abgemagerte Frau sitzt vor dem Fahrkartenautomaten beim Eingang zum Bahnhof, um sich herum eine Festung aus Habseligkeiten in Plastiktüten. Ein Mann schlurft auf sie zu, zieht an seiner Crack-Pfeife, dann reicht er sie weiter.
Eine andere Frau steht mit ihrem Rollstuhl vor dem Bahnhof, ihr Oberkörper ist nach vorne gebeugt, ihr Gesicht von einer Kapuze verborgen. Die Ampel an der Stresemannstraße zeigt grün. Langsam rollt sie auf die Straße, ohne den Kopf zu heben, und bleibt in der Mitte stehen. Passanten sprechen sie an. Keine Reaktion. Die Ampel wechselt auf rot. Kurz entschlossen schiebt ein Mann sie von der Straße. Kaum ist er weg, schiebt sie sich langsam zurück auf die Fahrbahn. Hupen.
Hamburg: S-Bahnhof Holstenstraße ist Crack-Hotspot
Der S-Bahnhof Holstenstraße ist einer der Treffpunkte der Crack-Szene, ein Hotspot des offenen Drogenkonsums in Hamburg. Der Raum rund um den Bahnhof ist durch massive Baustellen chaotisch und eng. Wenn im Durchgang des Bahnhofs Gruppen von etwa zehn Süchtigen versammelt sind, können die Passanten der Szene kaum ausweichen.
„Manche Familien wollen zu uns ins Restaurant kommen, trauen sich aber aufgrund der Süchtigen nicht. Vor allem im Sommer, wenn die Gäste auf der Terrasse sitzen wollen, wird die Szene zum Problem. Es sieht nicht gut aus, wenn überall Drogensüchtige stehen und Müll herumliegt“, sagt Ayman Rashed (47) zur MOPO. Er ist der Inhaber vom Pizza-Pasta-Burger-Restaurant „Jasino“, direkt am Holstenplatz.
Gastro-Besitzer beklagen Auswirkungen auf ihre Arbeit
Jeder Arbeitstag beginnt für ihn mit dem Putzen vor seinem Restaurant. Viele der Süchtigen kampieren direkt vor seinem Laden, einmal habe ihm einer aus der Szene die Tür kaputt gemacht, erzählt er. „Ich habe wegen der Crack-Abhängigen schon so oft die Polizei gerufen, aber die Beamten können nicht viel machen“, sagt Rashed. „Sie vertreiben die Crack-Abhängigen, aber keine zehn Minuten später sind sie wieder da.“ In der letzten Zeit kamen immer wieder Polizisten, an manchen Tagen sogar dreimal. „Am besten wäre ein Polizeiwagen, der jeden Tag draußen vor der Tür steht.“
Goekhan G. (43), der Chef vom „Schanzenbäcker“ am Holstenplatz, stimmt zu: „Es ist eine Belastung. Nachts, wenn ich herkomme und den Laden aufschließe, liegt auf unseren Tischen draußen Müll, die Crack-Abhängigen treffen sich hier genau vor der Tür. Wenn es kalt wird, wollen sie zu uns in den Laden – oder auch in die umliegenden Mietshäuser.“ Im Sommer sei noch mehr los. „Die Toiletten befeuern das Treiben“, so Goekhan G. zur MOPO. „Sie trinken Bier, gehen hier aufs Klo – sie müssen den Ort gar nicht mehr verlassen. Oben auf den Gleisen ticken sie auch schon. Früher waren hier auch Obdachlose, aber durch die Crack-Szene ist es schlimmer geworden. Ich befürchte, hier entsteht bald ein Steindamm 2.0.“
Ein Klein-Dealer, der seit Ewigkeiten rund um den Bahnhof verkauft, beschreibt ebenfalls, wie sehr sich die Szene verändert habe. Und obwohl die Menschen, mit denen er im Sommer die Tage an den Mauern dort verbringt, ebenfalls zweifelhafte Lebensläufe mit einigen, teils schweren Straftaten aufzuweisen haben, sagt er zu der neuen Szene: „Ich traue ihnen nicht.“ Es sei eine fremde Gruppe, mit denen kein kumpelhafter Kontakt möglich sei und an die man nicht herankomme.
Straftaten mit Crack steigen – Sozialarbeiter sind alarmiert
Die polizeiliche Kriminalstatistik Hamburgs zeigt bei Crack zuletzt einen Anstieg der registrierten Straftaten um 29,4 Prozent: 2022 wurden 1788 Fälle von allgemeinen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz mit Crack registriert, 2023 waren es bereits 2314 Fälle. Auch bei den registrierten Fällen von Handel und Schmuggel von Crack stieg die Zahl von 116 (2022) auf 144 (2023), ein Plus von 24,1 Prozent. Bei einem Großteil der Crack-Konsumenten handelt es sich um schwerstabhängige Personen, die ihren Konsum nicht ausschließlich auf Crack beschränken, sondern ein polyvalentes Konsumverhalten zeigen, sagt ein Polizeisprecher der MOPO.
Ronald Kelm vom Gesundheitsmobil kümmert sich um die Armen, Obdachlosen und Drogensüchtigen in Hamburg. Er ist wütend beim Anblick des Elends: „Die ganze Drogenpolitik in Hamburg ist aus dem Ruder gelaufen. Überall entstehen neue Brennpunkte. Die Vertreibung am Hauptbahnhof ist eine wesentliche Ursache für die neuen Hotspots“, sagt er zur MOPO.
Nach Ansicht der Polizei sei die Allianz Sicherer Hauptbahnhof mit den patrouillierenden Quattro-Streifen aus Polizei, Bundespolizei, DB-Sicherheit und Hochbahnwache nicht die einzige Ursache für die Entstehung neuer Treffpunkte der Szene, da sich deren Tätigkeiten nur auf den Hauptbahnhof und dessen Nahbereich beziehen. Die deutliche Präsenzerhöhung der Polizei führe jedoch zu einem erhöhten Kontrolldruck auf die Drogenszene, so der Polizeisprecher. „Dadurch kommt es durchaus zu Verdrängungseffekten, insbesondere entlang der Schnellbahnlinien in die angrenzenden Bereiche und Stadtteile. Diesem Ausweichverhalten der Drogenszene begegnet die Polizei mit einem regelmäßigen Bestreifen relevanter Örtlichkeiten sowie deren Umfelder.“
Das könnte Sie auch interessieren: Crack-Alarm in Hamburg: Verwahrlosung und Straftaten nehmen zu
Suchtmediziner Niklas Berger beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Die bloße Vertreibung der Suchtkranken von den bisherigen Hotspots löse das Problem nicht, sondern verschiebe es nur an andere Orte. „Es braucht ein offensives Angebot psychosozialer Betreuung, um die oft psychisch kranken Menschen umfassend zu behandeln und eine Alltagsstruktur für sie zu entwickeln“, sagt er zur MOPO.