Corona, Ukraine, Veganismus: Wann haben wir verlernt zu streiten, Herr Bodansky?
Ob es um Corona-Maßnahmen geht, um den Angriff Russlands auf die Ukraine oder um die Frage, ob ein veganes Ersatzprodukt „Wurst“ heißen darf: Überall scheint der öffentliche Diskurs verhärtet, produktives Streiten findet kaum mehr statt. Die MOPO sprach mit dem Hamburger Psychologen Alexander Bodansky über das Phänomen. Und der lieferte direkt eine überraschende Erkenntnis: So wirklich neu ist das alles gar nicht. Konstruktiv diskutieren konnten wir nämlich noch nie.
Ob es um Corona-Maßnahmen geht, um den Angriff Russlands auf die Ukraine oder um die Frage, ob ein veganes Ersatzprodukt „Wurst“ heißen darf: Überall scheint der öffentliche Diskurs verhärtet, produktives Streiten findet kaum mehr statt. Die MOPO sprach mit dem Hamburger Psychologen Alexander Bodansky über das Phänomen. Und der lieferte direkt eine überraschende Erkenntnis: So wirklich neu ist das alles gar nicht. Konstruktiv diskutieren konnten wir nämlich noch nie.
MOPO: Eine Verwandte überlegt gerade, ihr Geburtstags-Kaffeekränzchen abzusagen. Ihr Problem: Eine der eingeladenen Frauen ist bekennende Querdenkerin, die zweite Putin-Fan, die anderen beiden sind das, was man vielleicht klassische Grünen-Wählerinnen nennen könnte. Und nun hat sie Angst, dass das Ganze eskalieren könnte. Ist es tatsächlich schwieriger geworden, bei bestimmten Themen im Gespräch zu bleiben?
Alexander Bodansky: Nein, das Phänomen ist eigentlich nicht neu, sondern liegt in der Natur der Sache. Schon in Ihrer Frage klingt ja mit an: Das Problem entsteht, weil die Leute als Personifikation von Positionen auftreten. Also: die Putin-Versteherin, die Grünen-Wählerin. Das sind ja nicht nur Inge oder Clara in dem Moment, sondern die treten als eine radikale Position auf. Und als Repräsentant dieser Gruppe ist es extrem schwierig, Verständnis füreinander zu generieren.
Streit-Kultur: Konsens in Diskussionen etwa unmöglich?
MOPO: Das heißt, in einer solchen Diskussion ist das Ziel eigentlich nie Konsens?
Bodansky: Sehr selten zumindest. Wenn eine Person sich zum Beispiel als Querdenkerin sieht, dann ist deren Ziel ja nicht, Verständnis bei den anderen zu bewirken. Sondern die wirklich umzudrehen, in ihrer Meinung radikal aufzuwecken. Und da wird im Grunde nur reinszeniert, was die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlt, eben vorgibt.
MOPO: Und diese Gruppenzugehörigkeit ist meist eine Selbst-Zuschreibung?
Bodansky: Ich würde vielleicht eher von Identität sprechen. Und diese Identitäten – Querdenkerin, Veganerin, Fleisch-Fan etwa – sind oft sehr auf Konflikt gebürstet. Diskussionen werden dann als Nullsummen-Spiel inszeniert: Wir gegen die, eine Seite gewinnt. Es geht selten um eine gemeinsame Lösung. Man nimmt quasi automatisch eine Maximalposition ein.

Alexander Bodansky: Maximalpositionen werden automatisch eingenommen
MOPO: Und in unserem Beispiel würde das auch für die Grünen-Wählerinnen gelten.
Bodansky: Selbstverständlich. In einer konfrontativen Diskussion geht es auch denen darum: Wer hat Recht, wer setzt sich durch und wessen Definition der Welt ist die richtige? So lange die Beteiligten Clara und Inge bleiben, wird das wunderbar funktionieren. Wenn die sich dann noch darüber unterhalten, dass sie beide Omas sind, dann funktioniert das auch, weil das Identitäten sind, die gekoppelt sind. Aber die oben genannten Identitäten sind sehr polarisiert und lassen keinen Kompromiss zu.
MOPO: Aber warum?
Bodansky: Wenn in einer beliebigen Diskussion die eine Seite beispielsweise sagt: Ich wähle die Grünen. Die andere sagt etwa: Ich wähle AfD. Dann positionieren sie sich schon als Gegensätze. Und dann wird wiedergegeben, was die jeweilige Position ausmacht und nicht, was die handelnden Personen individuell kennzeichnet. Das Gegenüber wird nur aus dieser Linse wahrgenommen.
Hamburger Psychologe: Tipp für den Familienfrieden
MOPO: Und wie kann der Frieden dann bewahrt werden? In Familien wird zu Weihnachten etwa ja auch mal politisch diskutiert.
Bodansky: Im Grunde bleibt nur übrig, irgendwann zu sagen: So, jetzt haben wir genug über Politik geredet. Jetzt essen wir was Gutes und reden über etwas anderes, Fußball etwa, die Enkel, etwas Unverfängliches. Das Gegenüber ist ja nicht nur Wähler der Partei XY, sondern auch der Neffe, vielleicht Anhänger des gleichen Fußballvereins. Also: rausgehen aus der Diskussion und gemeinsame Identitäten suchen. Als Psychologe muss ich leider sagen: Das Auflösen von Dissens funktioniert nicht über bessere Argumente. Man wird fast nie eine andere Person überzeugen, dass sie falsch lag. Es gibt solche Sternstunden, die sind aber sehr selten.
MOPO: Deprimierend. Es gibt also kaum die Möglichkeit, produktiv zu streiten und Verständnis füreinander zu entwickeln?
Bodansky: Doch, Verständnis ist möglich. Diskurs-Analysen zeigen, dass bei jeder Diskussion, bei der zwei Parteien streiten, man das gleiche Argument auf beiden Seiten findet. Etwa: Wir müssen Putin unterstützen, weil das gut für unsere Kinder ist – dann kommen Gründe warum das gut für die Kinder ist. Und Putin-Gegner werden ebenfalls sagen: Das ist gut für unsere Kinder.
Das gleiche Argument findet sich auf beiden Seiten
MOPO: Also pro oder contra Putin: Alle wollen das Gute.
Bodansky: Auch der sogenannte Putin-Versteher ist bestimmt für Frieden. Die meisten Menschen haben ja die Eigenschaft, es ihrem Gegenüber so angenehm wie möglich machen zu wollen. Und wenn ich von dieser Prämisse ausgehe, dass der andere nichts Böses will, dann kann ich natürlich ein Verständnis für die andere Position entwickeln.
MOPO: Noch einmal zum Anfang zurück: Sie würden also nicht sagen, dass der Eindruck stimmt, dass konstruktives Streiten in der Gesellschaft schwieriger geworden ist.
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Bodansky: Dazu habe ich zumindest keine Studien. Mein subjektiver Eindruck ist: Seit 2016 etwa, angefangen mit der Wahl Donald Trumps, gibt es eine Zuspitzung der Wahrnehmung von richtig oder falsch. Was definitiv stimmt: Es gibt immer weniger eine geteilte Realität, auf die sich alle grob einigen können, eine gemeinsame Wirklichkeits-Beschreibung. Auch früher gab es schon verschiedene Zeitungen, aber heute ist das immer mehr aufgeteilt und es werden im Netz unterschiedliche Realitäten gezeigt. Und auch Politik ist mehr von Klientel-Politik geprägt als früher. Aber wie gesagt: Das Phänomen der Maximalpositionen in politischen Diskussionen, das ist nicht neu.
MOPO: Was wäre ein abschließender Tipp für meine Verwandte?
Bodansky: Naja, sie möchte ihre Freundinnen sehen, und das ist ja ihr gutes Recht. An ihrer Stelle würde ich sagen: ,Es gibt gewisse Themen, die werden heute nicht angesprochen.‘ Das ist schließlich ihr Geburtstag. Und da kann man sich ja auch was wünschen.