Ihr Mann hatte einen Schlaganfall: Frau sorgt mit revolutionärer Idee für Aufsehen
Eine leidenschaftliche Kite-Surferin, ein Manager, eine Grafikerin.... Klingt nicht so, als hätten die WG-Genossen viel gemeinsam und tatsächlich hätten ihre Wege sich vermutlich nie gekreuzt, wenn sie nicht alle ein ähnliches Schicksal getroffen hätte: Ein Schlaganfall in der ersten Lebenshälfte. Zu jung fürs Altersheim, aber zu pflegebedürftig, um alleine klar zu kommen. Für diese Menschen wurde in Hamburg das „Haus für morgen“ erfunden. Ein Besuch in St. Georg bei einer preisgekrönten Wohngemeinschaft, deren Erfolg sich bis in die Berliner Politik herumgesprochen hat.
- Deutsch (Deutschland)
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Eine leidenschaftliche Kite-Surferin, ein Manager, eine Grafikerin … Klingt nicht so, als hätten die WG-Genossen viel gemeinsam und tatsächlich hätten ihre Wege sich vermutlich nie gekreuzt, wenn sie nicht alle ein ähnliches Schicksal getroffen hätte: ein Schlaganfall in der ersten Lebenshälfte. Zu jung fürs Altersheim, aber zu pflegebedürftig, um alleine klar zu kommen. Für diese Menschen wurde in Hamburg das „Haus für morgen“ erfunden. Ein Besuch in St. Georg bei einer preisgekrönten Wohngemeinschaft, deren Erfolg sich bis in die Berliner Politik herumgesprochen hat.
Wer durch die Wohnungstür tritt, den empfängt ein heller, freundlicher Flur, der sich in eine riesige Wohnküche öffnet. Gleich gibt es Pizza, das erkennt man schon am Duft. Auf dem Balkon sitzen zwei Bewohner und rauchen (wie in jeder WG gibt es Ärger, wenn Rauch vom Balkon reinzieht), andere trudeln allmählich am großen Tisch ein.
Zwei Pflegerinnen haben den Tisch gedeckt und geben nun Hilfestellung: Alle neun Bewohner der WG sitzen im Rollstuhl, alle haben einen Schlaganfall erlitten, sind aber zu jung für ein Altersheim. Die Jüngste ist Jeanette (46), die mit Hut und verschmitztem Lächeln auf dem Balkon sitzt. Grafikerin war sie. Der Schlaganfall hat ihr Sprachzentrum getroffen, ihr künstlerisches Gespür hingegen blieb ihr erhalten, sie malt farbenfrohe Bilder.
Das Leben ihrer Mitbewohnerin Tina Masuch hat sich im vergangenen Jahr buchstäblich über Nacht geändert: Als begeisterte Kite-Surferin war sie im Ägypten-Urlaub ins Bett gegangen, erlitt im Schlaf einen Schlaganfall – und konnte nach dem Aufwachen ihre Beine nicht mehr bewegen. 58 Jahre alt war die Mutter erwachsener Zwillinge da, und die Vorstellung, in ein Altersheim zu ziehen, war quälend.
WG für jüngere Schlaganfallpatienten
Die WG für jüngere Schlaganfallpatienten ist nun ihr neues Zuhause geworden: „Ich bin froh, dass ich hier bin“, sagt sie, „auch wenn sich keiner von uns ausgesucht hat, hier einzuziehen.“ Der sportliche Ehrgeiz, der immer Teil ihrer Persönlichkeit war, hilft ihr nun, mit beharrlicher Therapie irgendwann wieder auf die Beine zu kommen. Sogar Kite-Surfen war sie bereits wieder, in Pelzerhaken an der Ostsee, wo es ein spezielles Angebot für Menschen im Rollstuhl gibt: „Das war der Wahnsinn“, strahlt sie: „Ich habe so gejauchzt.“
„Erfinderin“ des Projektes „Haus für morgen“ ist Barbara Wentzel – die sich nie hätte träumen lassen, einmal eine Pflegeeinrichtung zu erschaffen, die so besonders ist, dass die Deutsche Schlaganfallhilfe sie gleich zwei Mal mit dem Motivationspreis ausgezeichnet hat. Angefangen hat alles vor zehn Jahren mit einem dumpfen Knall: Am 3. April 2013 hatte ein kleiner Blutpropf ein Gefäß im Kopf von Henrik Wentzel verstopft. Der Familienvater stürzte in der Dusche zu Boden. Schlaganfall mit 56 Jahren.
Nach dem Schlaganfall ist nichts mehr wie zuvor
Für Barbara Wentzel und die drei gemeinsamen Kinder, damals zwischen 13 und 19 Jahre alt, war danach nichts mehr wie es war: „Mein Mann war von der Vaterfigur zu einem Behinderten geworden“, sagt Barbara Wentzel. Ein Alphatier sei ihr Mann immer gewesen, Jurist, Vorstand in einem Unternehmen, klug, witzig, unangepasst. Der Fels in der Brandung für Frau und Kinder – und nun kaum wieder zu erkennen, so hilflos und voller Zorn.
Wie sollte es weitergehen? Den Familienvater in ein Seniorenheim geben? Mit Mitte 50? „Das konnte ich mir nicht vorstellen“, sagt Barbara Wentzel. Also Pflege zuhause, mit ihr als nebenberuflicher „Chaosverwalterin“ – und einem Mann, der Pfleger und Familie mit seiner Wut zur Verzweiflung trieb.
Der älteste Sohn war es schließlich, der nach sieben Jahren eine Entscheidung erzwang: „Er sagte, wenn du dich nicht von Papi trennst, kann ich nicht studieren gehen.“ Der Vater zog daraufhin mit einem Freund und einem Pfleger in das Ferienhaus der Familie, und im Kopf der Mutter formte sich eine Idee: „Eine WG, in der die Bewohner sich Therapien und Pflege teilen, das wäre es doch.“
2020 wurde die WG in St. Georg gegründet
Zusammen mit Freunden gründete Barbara Wentzel einen Verein, alle möglichen Berufsgruppen waren vertreten, nur von Pflege hatte keiner Ahnung. Aber eines war klar: Das Projekt sollte die Bewohner glücklich machen – und die Angehörigen. Aus der ersten Vision („ein großes Haus im Grünen“) ist 2020 eine Neun-Zimmer-WG im Herzen von St. Georg geworden, unter dem Dach der Heerlein- und Zindler-Stiftung, die dafür mehrere Mini-Wohnungen zu einer 348-Quadratmeter-Fläche zusammenlegte.
Ein kleines Pflegeteam kümmert sich um die neun Bewohner im Alter zwischen 46 und 66 Jahren, Therapien können gebündelt vor Ort stattfinden, das spart Kosten und entlastet die Angehörigen von Fahrdiensten. Eine fest angestellte „Alltagsbetreuerin“ begleitet die Bewohner auf Wunsch zu Behörden, zum Einkaufen oder zu Ärzten – auch das eine Riesenentlastung für die Familien.
Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, zeigt sich begeistert: „Ich war vor Ort und habe mir die Einrichtung angeschaut, denn gerade für jüngere Menschen mit Pflegebedarf sind innovative Wohn- und Pflegekonzepte von großer Bedeutung“, sagt Moll zur MOPO. Gründerin Barbara Wentzel ist stolz auf den größten Erfolg des Projektes: „Durch die intensive Förderung konnten zwei Bewohner bereits wieder ausziehen.“ Die Warteliste für das „Haus für morgen“ ist lang, bis 2027 sollen bundesweit sieben weitere Wohn- und Pflegegemeinschaften für junge Schlaganfallpatienten entstehen, die Förderanträge sind schon eingereicht.
Henrik Wentzel, inzwischen 66 Jahre alt, ist der älteste Bewohner. Zum zweiten Jahrestag der WG-Einweihung hat er die Tischrede gehalten: „Aus dem Miteinander in der WG haben wir Freundschaften entwickelt und – etwas Ähnliches wie einen familiären Zusammenhalt gefunden.“ Jetzt sitzt er mit den anderen in der großen Küche. Die Pizza ist fertig.