• Blick in die leere Herbertstraße. An  den Scheiben hängen Protest-Plakate.
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Bestseller-Autor schreibt Brandbrief: Lieber Senat, rettet unseren Kiez!

Michel Ruge wuchs im Rotlicht-Milieu auf St. Pauli auf. Sein Buch „Bordsteinkönig“ über seine wilde Jugend wurde zum Bestseller. In der MOPO schreibt er einen Brandbrief an den Hamburger Senat. Tenor: Rettet unseren Kiez!

Lieber Senat,

dieser Tage laufe ich die Reeperbahn entlang und halte alle 30 Meter an. Für einen Schnack. Der beginnt auf St. Pauli mit einem derben Witz oder einem Augenzwinkern, gefolgt von Gossip aller Art. Dieser Tage ist das anders.

Michel Ruge appelliert: Rettet unseren Kiez!

St. Pauli ist wohl das Viertel in Hamburg, das die größten Umwälzungen erlebt hat, das sich immer wieder neu erfinden musste und das, weil es sich nie untreu wurde, eine eigenständige und einzigartige Kultur entwickelt hat. So oft es auch totgesagt wurde, hat es jedem Wandel am Ende etwas Neues abgerungen. Hat so seine einzigartige DNA stetig fortgeschrieben und sich im Kern dennoch nie verändert: Immer waren hier alle sozialen  Schichten willkommen. Oben, unten, Herkunft, sexuelle Vorlieben, politische Gesinnung, das war egal, solange man dem anderen mit Respekt begegnete.

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Und so ist es keine verklärende Romantik, wenn ich an die Zeiten erinnere, in denen St. Pauli ein wildes, lebendiges und pulsierendes Gemisch aus Gaunern, Huren, Seemännern, Tagelöhnern und -dieben, Künstlern, Medienleuten, Clochards, Wirtschaftsbossen, Privatiers und Alkoholikern aus allen Schichten war, die sich nach einer gemeinsamen Nacht in den Armen lagen. Eine kurze Berührung vielleicht, keinesfalls eine oberflächliche. Denn die Oberflächlichkeit kam erst später. Folgte auf die Verunsicherung, ausgelöst durch Rezession und HIV.

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Michel Ruge wuchs im Rotlicht-Milieu auf St. Pauli auf. Sein Buch „Bordsteinkönig“ über seine wilde Jugend wurde ein Bestseller.

Foto:

Stefan Stalio/hfr

Die Yuppies, die BWLer unter den Gaunern, brachten sie in den 1980er Jahren mit. Sie zogen die wirtschaftlichen Zügel strammer, ließen dabei aber die Champagnerkorken durchs Viertel fliegen und gaben St. Pauli so immerhin einen Teil dessen zurück, was sie sich materiell von ihm nahmen. Sie waren Teil von St. Pauli. In den 1990ern hielt das Partyvolk Einzug und mit ihm die schwule Szene, die Glitzer und Glamour über St. Pauli ausstreute. Das Viertel wurde auch ihr Zuhause.

„Michel, wie lange geht das noch so?“

Was folgte, waren schließlich die Touristen, auf die sich viele Gastronomen Ende der 1990er Jahre fokussierten. Farb- und seelenlose Systemgastronomie drängte ins Viertel und mit ihr schließlich über 25 Millionen Gäste jährlich.

Zu Beginn des ersten Lockdowns begegnete ich immer wieder einem alten Boxer, der zusammen mit Hanne Kleine den Boxkeller in der Ritze aufgebaut hat. Immer fragte er: „Michel, wie lange geht das noch so?“ So sehr ich es wünschte, ich konnte ihm keine Erleichterung geben, ahnte ich doch schon da, dass wir die nächsten zwei Jahre von Monat zu Monat neue Entscheidungen würden treffen müssen.

Die Spekulanten fressen gierig jeden Euro

Doch ich war nicht hoffnungslos, denn ich war und bin überzeugt davon, dass St. Pauli eine starke DNA besitzt. Dass der Kern dieser DNA, die kleinen  inhabergeführten Läden mit Kultur,  es auch dieses Mal schaffen. Aber genau diese Läden sind es, die jetzt drohen unter der zweiten Welle begraben zu werden. Weil kein internationaler Konzern sie schützt und auch keine langfristig angelegte Überlebensstrategie des Senats.

Es sind vor allem die Pachten, die in den letzten Jahren schwindelerregende Höhen erreicht haben und die nun einen Großteil der Hilfsgelder und Überbrückungskredite verschlingen. Und so fressen die Immobilieninvestoren und –spekulanten gierig Euro um Euro und damit die Existenzgrundlage derer, die mit ihrer Kunst und ihrer Originalität das Viertel weltberühmt gemacht haben. Mit ihm würde nicht nur ein Stadtteil sterben, sondern – begreift man Hamburg als lebendige Entität – ein lebenserhaltendes Organ.

St. Pauli braucht einen Milieuschutz

Denn St. Pauli ist für die gesellschaftliche Polarität der Stadt unabdingbar. Dort, wo die Fussballkneipen zweier rivalisierender Fussballclubs nebeneinander existieren können, entsteht Lebendigkeit. Und mehr noch: St. Pauli ist so vieles, was politisch und gesellschaftlich weltweit gefordert wird. Mehr Toleranz für sogenannte Randgruppen, Vielfalt, Respekt. Das gibt es hier schon seit den 1950ern!

Ich habe bereits vor sieben Jahren in einem Interview mit dieser Zeitung einen Milieuschutz gefordert. Viel passiert ist nicht. Jetzt schließt auch noch das St. Pauli-Museum. Wie sollen wir uns das erklären, angesichts des fast zweistelligen Milliardenbetrags, den die Lufthansa bekommen hat? Die hat  wie viele andere Fluggesellschaften mit den Millionen Touristen, die Wochenende für Wochenende am Stadtrand aus den Billigfliegern gekippt wurden, Reibach gemacht. Ihr Überleben genießt auf höchster Regierungsebene höchste Priorität. Arbeitsplätze und so.

Video: Corona-News aus Hamburg

Die sind hier auch bedroht und betroffen sind nicht nur Gastronomen, sondern auch Künstler und Soloselbstständige. Viele leben auf St. Pauli, performen hier aus vollem Herzen, gehen weit über die Grenzen einer Pflichterfüllung hinaus. Füllen die Häuser und Straßen mit Leben. Sind der Ursprung und Grund dafür, dass St. Pauli ist, was es ist. Bilden gemeinsam seine DNA. Sind eine Rettung wert, einen langfristig und ernsthaft angelegten Plan zur Erhaltung dieses einzigartigen Flecks Erde. Dann kann St. Pauli irgendwann auch wieder Heimat sein für Menschen aus aller Welt. Lieber Senat, seht und fühlt hin!

Freundlichst

Ihr Michel Ruge!

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