Hamburger Experte: Das läuft schief an unseren Schulen – und so helfen Sie Ihrem Kind
Die Aufregung bei rund 17.000 Kindern steigt – die Einschulung steht bevor. Was bedeutet dieser Schritt für unsere Kinder und wie können Eltern sie unterstützen? Die MOPO hat mit Hamburgs bekanntestem Kinderpsychiater, Prof Dr. Michael Schulte-Markwort, gesprochen. Er spricht über Trennungsängste, nicht gemachte Hausaufgaben und darüber, was an Hamburgs Schulen schief läuft.
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Die Aufregung bei rund 17.000 Kindern steigt – die Einschulung steht bevor. Was bedeutet dieser Schritt für unsere Kinder und wie können Eltern sie unterstützen? Die MOPO hat mit Hamburgs bekanntestem Kinderpsychiater, Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, gesprochen. Der 65-Jährige ist Ärztlicher Direktor der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachklinik Marzipanfabrik. Er spricht über Trennungsängste, nicht gemachte Hausaufgaben und darüber, was an Hamburgs Schulen schiefläuft.
Kommende Woche werden Hamburgs Erstklässler eingeschult. Was bedeutet dieser Schritt fürs Kind?
„In der Kita haben die Kinder auch schon gelernt, aber immer in Kombination mit viel Spiel. In der Schule ist jetzt mehr Disziplin gefragt. Die größte Herausforderung ist es, 45 Minuten dran zu bleiben und neue Themen zu verstehen. Für die Kinder bedeutet das im Vorfeld eine Mischung aus Neugierde, Vorfreude und natürlich auch Sorge und Unsicherheit.“
Wie können Eltern das Kind dabei unterstützen?
„Als Eltern sollten wir auf keinen Fall selbst zu viel Angst haben. Wir müssen das Kind innerlich loslassen. Die Einschulung selbst wird oft ritualisiert gefeiert, mit Schultüte und Oma und Opa, die extra aus anderen Städten anreisen. Das finde ich manchmal etwas viel. Wenn man das Thema zu sehr hervorhebt, können Kinder irritiert reagieren. Kleinere Feiern sind manchmal besser. Und es geht auch nicht darum, dass das Kind die größte Schultüte haben muss. Das ist oft übertrieben und dem Anlass nicht angemessen. Ein aufmerksames Zutrauen dem Kind gegenüber ist das Beste.“
Was sind die häufigsten Probleme in der Anfangszeit?
„Bei den Erstklässlern kann wieder eine Trennungsangst aufkommen, ähnlich wie bei der Eingewöhnung in den Kindergarten. Das Kind klammert, ist weinerlich, tut sich schwer beim Verabschieden. Die Eltern sollten ihm die Angst nehmen mit einer Mischung aus Trost und Zuspruch: ,Du schaffst das!‘ Die Trennungsangst ist in der Regel auch direkt vorbei, wenn die betreffende Person, also Mutter oder Vater, dann wieder weg ist.“
Sollte man dem Kind dabei helfen, Freunde zu finden?
„Kinder finden sehr schnell Freunde, meist passiert das innerhalb von vier Wochen. Dann wissen sie, mit wem sie sich gut verstehen und mit wem nicht. Eltern sollten ihr Kind dabei unterstützen. Sie können fragen: ,Wen magst du? Wollen wir xy mal zu uns einladen?‘“
Kinder geraten in der Schule ja immer mal wieder in Streit. Was soll man seinem Kind da am besten raten?
„Ich finde, wir lassen unsere Kinder mit Konflikten zu oft alleine. Eltern mischen sich zu wenig ein und Lehrer bekommen oft zu wenig mit. Mobbing ist ein Phänomen, das ungebrochen weiter existiert. Eltern sollten ihrem Kind niemals raten, zurückzuschlagen. Als erstes sollte das Kind immer ,Stopp!‘ sagen und danach konkretisieren, was es nicht möchte: ,Lass meinen Arm los!‘ Und wir sollten unseren Kindern durchaus raten, sich Hilfe vom Lehrer zu holen, wenn sich das Ärgern wiederholt. Ich finde es auch in Ordnung, als Elternteil direkt mit dem ärgernden Kind zu sprechen, freundlich, aber direkt: ,Ich möchte nicht, dass du mein Kind haust.‘ Oder man kann auch die Eltern des anderen Kindes anrufen. Der direkteste Weg ist oft der beste.“
Soll man zu Hause bei den Hausaufgaben helfen?
„Natürlich! Am schönsten ist es doch, wenn das Kind am Wohnzimmertisch die Hausaufgaben macht und die Eltern drumherum etwas arbeiten und bei Fragen ansprechbar sind. In der ersten Klasse kann das Kind durch die Hausaufgaben zu Hause zeigen, was es schon gelernt hat. In den höheren Klassenstufen, so dritte oder vierte Klasse, sehe ich die Sinnhaftigkeit von Hausaufgaben kritischer. Es gibt durchaus Stoff, den ich mehrmals wiederholen muss, um ihn ins Langzeitgedächtnis zu bekommen, da machen Hausaufgaben Sinn. Aber bei Techniken, die ich ein Mal verstanden habe und dann anwenden kann, muss ich ja nicht mehrfach wiederholen.“
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Was können Eltern tun, wenn das Kind die Hausaufgaben verweigert?
„Kinder leisten eigentlich gerne und verweigern sich in der Regel nicht einfach so. Manchmal kann das bedeuten, dass das Kind spezifische Lernprobleme hat. Aber oft sind es auch einfach zu viele Hausaufgaben. Es ist dann in Ordnung, das Kind mal ohne gemachte Aufgaben zur Schule zu schicken und einen Brief für den Lehrer mitzugeben: ,Es war einfach nicht alles zu schaffen. Ich bitte Sie, in Zukunft mehr auf die Menge zu achten.‘“
Gibt es weitere Dinge, die Sie am Schulsystem kritisch sehen?
„Für mich ist das Schulsystem eine der größten Dienstleistungswüsten Deutschlands. Ich kenne viele Fünfjährige, die mir mit leuchtenden Augen erzählen, dass sie sich auf die Schule freuen. Und nach dem Ende der ersten Klasse ist dieses Leuchten weg. Die Motivation geht in unserem Schulsystem leider oft verloren. Deutschlands Schulen sind sehr defizitorientiert. Statt ,Du hast 20 von 30 Aufgaben geschafft‘ heißt es ,Du hast 10 Fehler gemacht‘.“
Was läuft noch schief?
„Die Klassen sind zu groß – die Hälfte der Kinder wäre passend. Die Lehrer müssten mehr auf den individuellen Leistungsstand der Kinder eingehen. Nicht alle Kinder lernen gleich schnell. Außerdem ist der Eltern-Lehrer-Dialog oft schlecht. Und es fehlt meist an Wertschätzung und Respekt den Kindern gegenüber. Wenn ein Schüler im anglo-amerikanischen Raum etwas nicht verstanden hat, sagt der Lehrer: ,Entschuldige, dann habe ich es dir offensichtlich falsch erklärt.‘ In Deutschland gelten schlechte Noten als Ausdruck der Faulheit oder Unfähigkeit des Kindes. Kaum ein Lehrer würde sich hier fragen, was er falsch gemacht hat. Von den engagierten Lehrern – die es auch gibt – mal abgesehen.“
So ein Schultag ist anstrengend. Wie sollten Eltern den Nachmittag gestalten?
„Es ist hilfreich, die Hausaufgaben nicht aufzuschieben. Es gibt eine kurze Mittagspause, dann eine feste Hausausgaben-Zeit und dann wieder freie Zeit. Wie viel Programm oder Hobbys ein Kind am Nachmittag noch braucht, ist individuell. Einige Kinder brauchen einen Sport- oder Musikkurs, andere machen es nur den Eltern zuliebe. Da sollten Eltern auf ihr Bauchgefühl hören. Falsch finde ich es aber, zu sagen, Kinder müssen sich auch mal langweilen. Kein Mensch langweilt sich doch gern.“
Muss mans ich Sorgen machen, wenn ein Kind nie was aus der Schule erzählt?
„Oft laufen die Gespräche nach der Schule ja so ab: ,Wie wars?‘ ,Gut.‘ ,Was habt ihr gemacht?‘ ,Nix.‘ (lacht). Es gibt eben auch wortkarge Kinder, vor allem bei Jungs ist das oft so. Das ist aber kein Grund für Eltern, direkt misstrauisch zu werden, dass in der Schule etwas nicht stimmt. Wenn das Kind aber plötzlich nichts mehr erzählt, obwohl es das vorher gern gemacht hat, sollten Eltern hellhörig werden.“
Das Kind will nicht mehr zur Schule gehen. Was ist da die Aufgabe als Eltern?
„Wenn das ein wiederkehrendes Problem ist, sollten Eltern so lange dranbleiben bis sie wissen, was der Grund dafür ist. ,Vielleicht hast du es gerade sehr schwer in der Schule‘ oder ,Ich will dich nicht bestrafen, ich möchte nur verstehen, was los ist‘. Denn da kann tatsächlich eine nachhaltige Angst vor Mobbing oder Erpressung durch Mitschüler oder auch eine dauerhafte Ungerechtigkeit durch einen Lehrer dahinterstecken.“
Ist es für die Entwicklung wichtig, dass Erstklässler den Weg zur Schule schon allein laufen?
„Es gibt bestimmt Sechsjährige, die den Schulweg auch schon allein schaffen. Ich als Vater würde mein Kind in der ersten Klasse noch nicht allein gehen lassen. Ich finde, mit sechs Jahren ist es dafür noch zu klein – in dem Alter lässt man seine Kinder ja auch noch nicht allein zu Hause.“