Vor Gericht: „Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger der Angeklagte“
Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. So lautet das zentrale Versprechen des Rechtsstaates. Doch stimmt das? Oder werden Reiche begünstigt und Arme benachteiligt? Der bekannte Jurist und Journalist Ronen Steinke formuliert in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ (2022) eine klare Antwort: „Der Rechtsstaat bricht sein Versprechen“. Eine neue ARD-Doku kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass Arme in der Strafjustiz benachteiligt werden. Doch wie ist es in Hamburg? Die MOPO hat sich die Zahlen angesehen.
Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. So lautet das zentrale Versprechen des Rechtsstaates. Doch stimmt das? Oder werden Reiche begünstigt und Arme benachteiligt? Der bekannte Jurist und Journalist Ronen Steinke formuliert in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ (2022) eine klare Antwort: „Der Rechtsstaat bricht sein Versprechen“. Eine neue ARD-Doku kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass Arme in der Strafjustiz benachteiligt werden. Doch wie ist es in Hamburg? Die MOPO hat sich die Zahlen angesehen.
Patrick H. (28) klaut mehrmals in Supermärkten und wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Er ist drogensüchtig, hat mit 15 Jahren das erste Mal Crystal Meth gezogen, wuchs bei Pflegeeltern und im Kinderheim auf. Die Post der Justiz ignoriert er. Er kann nicht zahlen. Eines Tages steht die Polizei vor seiner Tür und nimmt ihn fest. Das erzählt er in der JVA Plötzensee (Berlin) den Filmemachern der ARD-Story „Arm und Reich vor Gericht – Wie gerecht ist unsere Strafjustiz?“.
Geldstrafe: Ein Tagessatz entspricht einem Tag in Haft
Tatsächlich: Wer wie Patrick H. seine Geldstrafe nicht zahlt, kann am Ende in Haft (Ersatzfreiheitsstrafe) landen – egal, ob er nicht zahlen wollte oder konnte.

Eine Geldstrafe wird in Tagessätzen verhängt und orientiert sich am Nettoeinkommen des Betroffenen. Meist wird dieses Einkommen jedoch nur vom Gericht geschätzt. Wenn ein Gericht jemanden zu 30 Tagessätzen je 15 Euro verurteilt, heißt das, die Person muss insgesamt 450 Euro zahlen. Wird die Summe nicht beglichen, verwandeln sich die Tagessätze in Haft-Tage. Die Rechnung: Ein Tagessatz gleich ein Tag Haft.
In der JVA Plötzensee sind knapp 500 Menschen eingesperrt, etwa 250 sitzen eine Ersatzfreiheitsstrafe (EFS) ab. Der Leiter der JVA, Uwe Meyer-Odewald, kritisiert das: „Es sind Menschen, die in der Regel die Kontrolle über ihr Leben verloren haben“, sagt er in der „ARD Story“. Die meisten von ihnen hätten massive gesundheitliche Probleme, seien drogenabhängig, obdachlos und/oder könnten die deutsche Sprache nicht verstehen. Mehr als die Hälfte der bestraften Vergehen sind Eigentumsdelikte oder Erschleichen von Leistungen, wie Fahren ohne Ticket.
Hamburg: Weniger Ersatzfreiheitsstrafen als in Berlin
In Hamburg sieht es wesentlich besser aus. Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafen sitzen hier größtenteils in der JVA Billwerder. Am 31. Mai 2023 sind dort insgesamt 728 Gefangene untergebracht. Davon verbüßen 116 eine Ersatzfreiheitsstrafe (15,93 Prozent).
„Die Anzahl der EFS-Gefangenen im hamburgischen Justizvollzug ist in den vergangenen knapp 30 Jahren – mit Schwankungen – leicht rückläufig, während bundesweit gesehen die Zahl der Verurteilten, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, in den vergangenen zwei Jahrzehnten merklich angestiegen ist“, erklärt ein Sprecher der Justizbehörde gegenüber der MOPO.
Es sei das Ziel der Behörde, Ersatzfreiheitsstrafen möglichst zu vermeiden, so der Sprecher. „Das liegt zum einen an den hohen Haftkosten (2021 kostete ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe 221,91 Euro) und an der Tatsache, dass es in der kurzen Haftdauer kaum möglich ist, mit diesen Personen zu arbeiten, also mit ihnen zusammen ihre Probleme anzugehen.“ Außerdem träfen die Maßnahmen sehr häufig Menschen, die ihre Geldstrafe einfach nicht bezahlen können.
Strafbefehl: Gut für Gerichte, schwierig für Betroffene
Die meisten Schuldsprüche werden heute nicht mehr vor Gericht gefällt – sondern per Strafbefehl. In diesem Fall entscheidet die Staatsanwaltschaft über die vorliegende Anzeige, ein Amtsrichter überprüft den Strafbefehl danach nur oberflächlich. Die Betroffenen haben, sobald der Brief sie erreicht, nur zwei Wochen Zeit, Einspruch gegen den Strafbefehl einzulegen. Danach ist das Urteil rechtskräftig.
Für Gerichte bedeutet das eine Entlastung, berichtet Lena Dammann, Richterin am Amtsgericht St. Georg in Hamburg. Sie brauche bei einem Strafbefehl nur die Akte zu lesen. Es gibt keine Anhörung, kein schriftliches Urteil von ihr.
Deutschland: Nicht jeder hat Recht auf Pflichtverteidiger
Sie benennt in der Doku auch das Problem für die Betroffenen: Im Strafbefehl muss der Beschuldigte nur „hinreichend verdächtig“, in einer mündlichen Verhandlung hingegen mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ schuldig sein.
Wenn ein Fall vor Gericht landet, sind die Chancen der Beschuldigten ebenfalls ungleich. „Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger wird der Angeklagte“, fasst Ronen Steinke, Jurist und Journalist, die Situation zusammen. Dem stimmt auch der Top-Anwalt Nikolaos Gazeas aus Köln, sowohl in der Doku wie auch im Buch von Steinke, zu. Kanzleien wie seine verlangen Stundensätze um die 400 Euro. Er hat Beschuldigte in Cum-Ex-Strafverfahren vertreten und die Verteidigung im Schmiergeldprozess um ehemalige Siemens-Manager koordiniert. Er schätzt, dass 80 Prozent seiner Fälle entweder eingestellt werden oder mit Freispruch enden.
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Wer sich keinen Verteidiger leisten kann, steht in Deutschland oft ohne Anwalt vor Gericht. Nur in bestimmten Fällen hat man das Recht auf einen Pflichtverteidiger, den der Staat bezahlt. Dazu gehören Straftaten, die zu Haftstrafen von mindestens einem Jahr führen – oder wenn der Angeklagte bestimmte Einschränkungen wie eine Hörbehinderung oder Sprachprobleme hat. Ob eine Pflichtverteidigung notwendig ist, entscheidet am Ende der Richter.
Der Staat hält die Pflichtverteidiger an der kurzen Leine. Für die gesamte Vorbereitung und den Auftritt vor Gericht zahlt er oft nur 145 Euro, berichtet Steinke. Während private Anwälte durch Geld Zeit und Ressourcen haben, schaffen Pflichtverteidiger so oft nur ein Minimum an Vorbereitung. Der Staat produziere so eine Ungleichheit, die empirisch messbar ist, so Steinke in seinem Buch. Im Gerichtssaal beantragen private Anwälte in 30,8 Prozent der Fälle einen Freispruch ihres Mandanten, die Pflichtverteidiger, auf die Ärmere angewiesen sind, tun dies nur in 11,6 Prozent der Fälle.
Die ARD-Doku läuft am 6. Juni 2023 um 22.50 Uhr im Ersten und ist ab dann in der ARD-Mediathek verfügbar.