Apotheker schlägt Alarm: „Das ist eine Katastrophe”
Insulin, Antibiotika, Krebsmittel: Der Medikamentenmangel in Hamburg hält an. Kaum entspannt sich die Lage beim Fiebersaft für Kinder, wird die Scharlachwelle zum Problem. Die MOPO hat den Präsidenten der Apothekerkammer, Kai-Peter Siemsen, gefragt, was fehlt, wann es besser wird – und wie sich Patienten jetzt am besten verhalten.
Insulin, Antibiotika, Krebsmittel: Der Medikamentenmangel in Hamburg hält an. Kaum entspannt sich die Lage beim Fiebersaft für Kinder, wird die Scharlachwelle zum Problem. Die MOPO hat den Präsidenten der Apothekerkammer, Kai-Peter Siemsen, gefragt, was fehlt, wann es besser wird – und wie sich Patienten jetzt am besten verhalten.
MOPO: Herr Siemsen, was fehlt gerade in Hamburg?
Kai-Peter Siemsen: Was fehlt nicht? Etwa jedes zweite verordnete Medikament hat ein Lieferproblem. Das geht von Antibiotika über Blutdrucksenker, Psychopharmaka, Insulin und Krebsmittel. Im Moment brauchen wir die Antibiotika Penicillin und Amoxicillin massiv, weil Scharlachwellen durchs Land rollen. Die sind fast gar nicht zu bekommen. Im schlimmsten Fall müssen Kinder ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie ambulant nicht mehr zu versorgen sind. Das ist eine Katastrophe.
Hamburg: „Manche Eltern weinen”
Wie reagieren Kunden?
Manche Eltern weinen, wenn sie mit ihren schwerfiebernden Kindern in der Apotheke stehen, und wir können ihnen nicht helfen. Es ist fürs Kind unerträglich, für die Eltern eine Qual – und auch für uns, das mitanzusehen. Einige Kollegen berichten auch, dass Kunden ihren Frust, ihre Wut und Hilflosigkeit an ihnen auslassen und sie unflätig angeschnauzt werden. Wir können den Druck verstehen, trotzdem ist es nicht schön. Wir verbringen pro Woche zehn bis zwölf Stunden damit, zu versuchen, unsere Lager aufzufüllen. Aber wenn ein Großhändler mal einen Karton bekommt, ist der oft in zehn Minuten leergekauft.

Wann wird es besser?
Es wird im Sommer zwar bei Erkältungsmitteln und Antibiotika leichter, weil sie weniger gebraucht werden. Aber bei vielen chronischen Erkrankungen wird es so bleiben. Viele Arzneistoffe werden nur in China oder Indien produziert, deshalb wirken sich Probleme dort gleich auf alle Hersteller aus. Teils fehlt es auch an Glasflaschen, die wegen der hohen Energiepreise weniger produziert werden, oder an Folien für Tabletten. Es kommt viel zusammen. Und weil Deutschland so wenig zahlt, kommen andere Länder vor uns dran. Dabei gelten wir als eins der wirtschaftlich stärksten Länder. Das geht nicht in meinen Kopf.
Lauterbach-Gesetz: „Das ist reine Augenwischerei”
Was meinen Sie?
Seit dem Sparkurs von 2004 sind wir in einer Abwärtsspirale. Weil nur noch das Minimum bezahlt wird, scheiden viele aus dem Markt aus. Nicht nur Arzneimittel-Hersteller, auch Krankenhäuser und Apotheken. Wir haben im vergangenen Jahr 400 Apotheken verloren und es werden noch mehr, weil wir faktisch mit einer Honorarkürzung von 13 Prozent ins Jahr 2023 gehen. Das ist eine Missachtung unserer Arbeit.
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Hilft das Gesetz von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)?
Nein, das ist reine Augenwischerei. Hersteller dürfen die Preise bei Kindermedikamenten zwar um 50 Prozent anheben, aber die Beträge liegen im Centbereich. So soll ein Medikament wirtschaftlich sein? Das funktioniert nicht. Und um die Produktion nach Deutschland zu holen, müssen Fabriken gebaut und die Chargen evaluiert und freigegeben werden. Es dauert sieben bis zehn Jahre, bis erste Produkte verkauft werden. Es gibt hier ganz andere Umweltstandards, Lohnkosten und Arbeitszeiten als in China, deshalb müssten wir auch bereit sein, viel mehr zu bezahlen. Ich glaube nicht, dass das gelingt. Die Politik muss sich endlich überlegen, wie das System finanziert werden soll. Erst recht, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und ihre Beiträge sinken, sie aber als Patienten bleiben.
Was raten Sie Patienten?
Horten Sie nicht! Wenn Sie Chroniker sind, sollten Sie aber auch nicht auf den letzten Drücker in die Apotheke kommen. Mal kann man auf eine andere Packungsgröße oder Hersteller ausweichen, aber in manchen Fällen können wir nichts anderes tun, als mit den Ärzten die Therapie umzustellen. Dafür brauchen wir etwas Vorlauf.