• Christian Drosten
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Angriff auf Virologe Drosten: Kommentar: Wissenschaft darf nicht zum Sündenbock werden

Die Welt lechzt nach einfachen Antworten, die Welt steht auf Schwarz-Weiß. Ist das Virus nun eine tödliche Gefahr? Oder ist es so normal wie die Grippe? Ist es sicher, die Schulen zu öffnen? Oder völlig verantwortungslos? Mit der Corona-Pandemie wird die Kluft zwischen dem, was Wissenschaft leisten kann, und der menschlichen Gier nach einfachen Lösungen so spürbar wie vielleicht nie zuvor. Das zeigt der Angriff der „Bild“ auf Deutschlands bekanntesten Virologen.

Christian Drosten (48) ist ein Mann, der bis vor Kurzem nur Insidern bekannt war. Heute nennt ihn die „Bild“ „Star-Virologe“. Auch so eine Wortschöpfung, die vor wenigen Monaten ähnlich viele Fragezeichen provoziert hätte wie „neue Normalität“.

Christian Drosten gehört weltweit zu Top-Virologen

Drosten arbeitet an der Berliner Charité, gehört weltweit zu den angesehensten Forschern auf dem Gebiet der Coronaviren. Die Kanzlerin vertraut auf sein Urteil. Ursula von der Leyen tut es. Er ist mit seiner Forschung von jetzt auf gleich in den Mittelpunkt allen Handelns, aller wichtigen und existenziellen Fragen dieser Zeit geraten. Und er hat das Talent, selbst die komplexesten Zusammenhänge ruhig und anschaulich vermitteln zu können. Der NDR-Podcast „Coronavirus-Update“, in dem er mehrmals wöchentlich einordnet und erklärt, ist auch deshalb eine Erfolgsgeschichte.

Für viele Menschen haben diese Gespräche geradezu therapeutischen Wert. Wo alles aus den Fugen zu geraten scheint, wo tiefe Verunsicherung unseren Alltag prägt, da spricht Drosten freundlich und aufgeräumt über Erkenntnisse der Forschung, über den Sinn einer Maskenpflicht, über Impfstoff-Entwicklung und all die Dinge, die heute jeden von uns betreffen.

Was sich ja immer noch bizarr genug anfühlt, wenn man mal dazu kommt, darüber mit ein wenig Distanz nachzudenken.

„Bild“ stellt Drosten an den Pranger

Nun also wurde Drosten von der „Bild“ abgekanzelt: „Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht“, titelte Julian Reichelts Meinungs-Maschine gestern. „Fragwürdige Methoden“, war im Innenteil der Zeitung zu lesen. Und: „Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch“.

Im Internet jubelten all jene, für die der Mahner zur Vorsicht und Rücksichtnahme mit zunehmendem wirtschaftlichen und sozialen Druck längst zum Sinnbild des Bremsers bei den Bestrebungen um die schnelle Rückkehr zur Normalität geworden war. Die genervt waren davon, dass es bei Drosten oft Vorbehalte gab, wo andere schon dachten und sagten: Halb so wild, jetzt reicht’s auch mal.

Bei den offenkundig Durchgedrehten ist dieser Frust schon lange pervertiert. Morddrohungen haben ihn erreicht, erst gestern wieder. Im Internet kursieren Bildmontagen, die ihn mit dem SS-Mörder Mengele gleichsetzen.

Solche Berichterstattung ist Gift in Krisen-Zeiten

Bei „Bild“ wollte man Drosten in der Sache packen und zitierte aus den Kommentaren, mit denen Forscher-Kollegen eine Studie vor ihrer offiziellen Veröffentlichung auf Schwächen abklopfen. Ein gängiger Prozess auf dem Weg zum Erkenntnisgewinn. Auf einem Feld, auf dem alles Neuland ist.

„Bild“ jazzte das zu einer Vernichtung der Arbeit hoch, leistete sich dabei unsaubere Übersetzungen und unterschlug den Zusammenhang, aus dem die Zitate stammten. Und die ungefragt Zitierten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen.

Diese Form der Berichterstattung ist Gift für die wichtigste Basis im Umgang mit der Krise: den mühsamen Kampf um sachlichen Erkenntnisgewinn. Um Hinweise darauf, wo Chancen und Risiken im Umgang mit dem Virus liegen.

Die Wissenschaft hat keine Macht. Sie ist nie allwissend. Sie liefert der mächtigen Politik Grundlagen für Entscheidungen. Sie schließt keine Schulen, sie kann Politikern nur Entscheidungshilfen anbieten. Sie rennt in viele Richtungen los und landet oft in Sackgassen. Sie kämpft in allen Studien mit Unzulänglichkeiten und dem noch Unbekannten. Sie geht von Annahmen aus, die sich später als falsch herausstellen können. Sie puzzelt aus unendlich viel kleinteiliger Arbeit über einen Zeitraum von Jahren und Jahrzehnten ein großes Bild zusammen. Und sie ist der einzige Weg, die Menschheit in den wesentlichen Fragen voranzubringen. Sie hat es nicht verdient, so plump diskreditiert zu werden.

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