Leben als Analphabet: „Die glaubte mir nicht und wollte mich rauswerfen“
Fahrpläne lesen, Fragebögen beim Arzt ausfüllen, Behördenbriefe verstehen: Dinge, die für die meisten von uns selbstverständlich sind, für Menschen wie Uwe Scheele aber eine schier unüberwindbare Herausforderung darstellen. 51 Jahre hat der Hamburger sich durchs Leben geschlagen, ohne auch nur einen Satz lesen oder schreiben zu können. Im Gespräch mit der MOPO hat er erzählt, wie schwierig das war, warum er selbst in einfachsten Alltagssituationen hilflos war – und wie er nach so vielen Jahren des Versteckspiels doch noch die Schulbank drückte und Lesen lernte.
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Fahrpläne lesen, Fragebögen beim Arzt ausfüllen, Behördenbriefe verstehen: Dinge, die für die meisten von uns selbstverständlich sind, für Menschen wie Uwe Scheele aber eine schier unüberwindbare Herausforderung darstellen. 51 Jahre hat der Hamburger sich durchs Leben geschlagen, ohne auch nur einen Satz lesen oder schreiben zu können. Im Gespräch mit der MOPO hat er erzählt, wie schwierig das war, warum er selbst in einfachsten Alltagssituationen hilflos war – und wie er nach so vielen Jahren des Versteckspiels doch noch die Schulbank drückte und Lesen lernte.
Bei den Mitarbeitern der Stadtreinigung Hamburg ist Uwe Scheele richtig beliebt. Sie mögen ihren Kollegen mit der „Kodderschnauze“, ein richtiger „Hamburger Jung“, wie er sich nennt, großgeworden auf dem Kiez. Seit acht Jahren ist er nun schon hier am Bullerdeich in Hammerbrook beschäftigt und hilft dabei, das Gelände der Stadtreinigung sauber zu halten.
Mehr als 50 Jahre trug Uwe Scheele sein Geheimnis herum
Scheeles Start ins Leben war holprig. „In der Schule bin ich nicht richtig mitgekommen“, erzählt er im Gespräch mit der MOPO. „Das hat einfach nicht funktioniert. Ich habe dann so früh wie möglich abgebrochen.“ Da habe er nur einzelne Wörter wie „Baum“, „Hund“ oder „Auto“ lesen und schreiben können – aber nie einen ganzen Satz.
Ein Geheimnis, das Uwe Scheele ab diesem Zeitpunkt mit sich herumtrug. Über die Arbeitsagentur kam er an Hilfsarbeiten und schlug sich so durch. Immer wieder wurde er mit seinem „Problem“ konfrontiert: „Da stand ich zum Beispiel am Empfang beim Arzt“, berichtet der Hamburger. „Die Sprechstundenhilfe wollte, dass ich einen Fragebogen ausfülle. Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht kann, aber sie hat mir das wohl nicht geglaubt und wollte mich fast rauswerfen. Vielleicht dachte sie, dass ich sie veräppeln will. Die ganzen Leute drum herum haben das mitbekommen.“
Im Alltag ist Scheele auf die Hilfe von Freunden und Angehörigen angewiesen. Sie helfen ihm, seine Briefe zu verstehen und Fahrpläne zu lesen. Und er hat ein gutes Gedächtnis, „Festplatte“, wie er es nennt. Schriftliche Notizen bringen ihm nicht viel.
Mittlerweile kann der Hamburger ein bisschen lesen
6,2 Millionen in Deutschland lebende Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren können laut der „Leo-Studie“ nicht ausreichend lesen und schreiben. Das ist jeder Achte – auch in Hamburg. Das ist zu wenig bekannt, findet Uwe Scheele. „Die meisten schämen sich dafür, dabei ist das weit verbreitet. Es muss viel mehr Werbung fürs Lesen lernen gemacht werden“, sagt er.
Uwe Scheele ist heute 56. Vor fünf Jahren hat er mithilfe des Projekts „Neu Start Arbeit“ einen Intensivkurs in Lesen und Schreiben durchgeführt. „Drei Monate, fünf Stunden am Tag. Das war heftig, sag ich dir, aber es war auch sehr lehrreich.“ Er sei „richtig enttäuscht“ gewesen, als der Kurs vorbei war. Später war Uwe Scheele auch noch bei Abendkursen an der Volkshochschule. „Ich wollte endlich aktiv werden!“
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Mittlerweile kann der „Hamburger Jung“ einige Sätze lesen und schreiben. Bei komplizierten Behördenbriefen hilft ihm die Behindertenbeauftragte der Stadtreinigung – Freunde und Familie möchte er „auch nicht immer damit nerven“. Eins ist Uwe Scheeler ganz wichtig zu betonen: „Auch wenn‘s schwerfällt, trainiert das Lesen und Schreiben. Es ist das A und O im Leben!“