Die Türmer vom Michel: Kennen Sie diese uralte Hamburg-Tradition?
Jeden Tag erklingt vom Hamburger Michel aus mindestens ein Choral in alle Himmelsrichtungen. Seit Jahrhunderten. Drei Jahrzehnte davon gehen dabei auf das Konto der beiden Türmer Josef Thöne und Horst Huhn. Zum Jubiläum gibt es eine kleine Besonderheit.
Josef Thöne setzt die braunrote Brille auf und blättert im alten Kirchengesangbuch mit den schon braunen und abgegriffenen Seiten. „Wir könnten ja ein Morgenlied nehmen“, überlegt der Musiker laut. Der Choral „Die güldne Sonne voll Freud und Wonne“ war erst kürzlich dran. Der 62-Jährige entscheidet sich deshalb für das Kirchenlied „Aus meines Herzens Grunde“ und trägt das Gesangbuch zum Ostfenster des Michel-Turms.
Jeden Tag erklingt vom Hamburger Michel aus mindestens ein Choral in alle Himmelsrichtungen. Seit Jahrhunderten. Drei Jahrzehnte davon gehen dabei auf das Konto der beiden Türmer Josef Thöne und Horst Huhn. Zum Jubiläum gibt es eine kleine Besonderheit.
Josef Thöne setzt die braunrote Brille auf und blättert im alten Kirchengesangbuch mit den schon braunen und abgegriffenen Seiten. „Wir könnten ja ein Morgenlied nehmen“, überlegt der Musiker laut. Der Choral „Die güldne Sonne voll Freud und Wonne“ war erst kürzlich dran. Der 62-Jährige entscheidet sich deshalb für das Kirchenlied „Aus meines Herzens Grunde“ und trägt das Gesangbuch zum Ostfenster des Michel-Turms.
Hamburg: Michel-Choräle erklingen seit Jahrhunderten
Es schlägt unter ihm gerade zehn Uhr. Er öffnet das kleine Fenster, setzt die Trompete an und lässt pünktlich nach dem letzten Gong-Schlag die ersten Töne des Chorals erklingen. Thöne ist einer der beiden Turmbläser der Hamburger Kirche St. Michaelis. Und ist damit ein Teil einer Hamburger Tradition, die es seit Jahrhunderten an der Elbe gibt.

Von montags bis samstags erklingt jeden Morgen und jeden Abend sowie sonntags zur Mittagszeit eine Strophe eines evangelischen Kirchenliedes in alle vier Himmelsrichtungen. Und je nach Wind und Wetter ist der Choral entsprechend weit zu hören. Seit mehr als 300 Jahren wird das in Hamburg gemacht, wie es bei der Kirchgemeinde St. Michaelis heißt.
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Thöne zufolge gibt es das deutschlandweit in der Frequenz und Regelmäßigkeit nur noch selten. In Münster hat eine städtische Türmerin beispielsweise ähnliche Aufgaben, in Lüneburg kraxelt der Turmbläser ebenfalls fast täglich auf den Kirchturm, und auch in Celle ist das ganze Jahr ein Turmbläser aktiv, wie die jeweiligen Tourismus-Infos sagten.
Auch für Thöne und seinen Teamkollegen Horst Huhn gibt es keine Ausreden bei schlechtem Wetter oder im Winter. „Regen ist dabei gar nicht so das Problem. Eher der starke Wind“, so Thöne. Aber auch hier zeigt er sich nordisch pragmatisch. „Das ist dann wie ein Föhn von vorne. Aber das ist ja letztlich nur für eine Minute auszuhalten.“ Bei echtem Mistwetter entscheidet sich Thöne gern auch mal für einen kürzeren Choral. „Es gibt auch welche, die sind nur etwa 20 Sekunden lang. Die versuche ich eigentlich zu meiden und nehme sie höchstens mal bei ganz schlechtem Wetter.“
Michel-Türmer Thöne und Huhn: Im Dienst seit 1992
Am 1. August 1992 haben Thöne und Huhn das Amt des Türmers vom damaligen Türmer und Küster übernommen, der in den Ruhestand ging. Seitdem ist immer einer von beiden auf der siebten Etage des berühmten Turms im Dienst und bläst von Montag bis Samstag morgens und abends den jeweiligen Choral. An Sonntagen nur mittags. Nur einmal sei die Tradition seitdem ausgefallen. „Da ist mein Kollege auf dem Weg zum Turm von einem Auto angefahren worden. Gott sei Dank nicht schlimm, aber für den Termin im Turm war es dann zu spät.“
Das Turmblasen findet jeden Tag seine Zuhörer, darunter auch viele, die eigens darauf warten. Dazu gehört auch die Pastorin der Kirchgemeinde, die den Auftritt der Türmer jeden Morgen für Instagram filmt. Auf den Balkonen der Stadt stehen oft die gleichen Menschen und lauschen den Trompetentönen. „Ein Mann steht da jeden Morgen. Da macht man sich fast schon Sorgen, wenn er mal nicht da ist“, sagt Thöne und winkt der Pastorin und dem Mann auf dem Balkon noch mal kurz zu, bevor er das kleine Fenster Richtung Hafen wieder schließt.
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Die Türmer starten der jahrhundertealten Tradition entsprechend mit ihrem Choral immer im Osten des Michel-Turmes und folgen dann dem Lauf der Sonne. Auch der Norden bekommt seinen Guten-Morgen-Choral. Nicht selten geht der aber im Verkehrslärm oder den Sirenen von Feuerwehr oder Polizei unter, wie Thöne lachend sagt. „Am besten hört man uns bei Regenwetter.“ Am 1. August – zu ihrem 30-jährigen Türmerjubiläum – wollen Huhn und Thöne ausnahmsweise mal zusammenspielen.

Früher waren die Turmbläser auch für die Signale zum Öffnen und Schließen der Stadttore zuständig, erzählt Thöne. „Damals stand der Michel noch außerhalb der Stadtmauern.“ Das ist nun nicht mehr nötig, doch die Choräle werden immer noch gespielt. In den vielen Jahrhunderten seitdem hat sich am Ablauf fast nichts geändert. Nur zwischen 1906 und 1909 musste der Arbeitsplatz des Türmers auf ein Holzgestell neben die Kirche verlagert werden, wie Thöne sagt. 1906 war die Kirche wegen eines Feuers im Turm komplett abgebrannt.
Hamburg: Michel-Choräle überstanden auch Corona
Auch Corona hat der Tradition nichts anhaben können. Als der Michel pandemiebedingt schließen musste, bliesen die beiden freiberuflichen Turmbläser weiter ihre Choräle. „Viele haben uns damals gesagt, dass es schön ist, dass mit uns wenigstens eine Sache ganz normal weitergeht. Wir waren in der ganzen Zeit wohl die einzigen Künstler, die jeden Tag weiterspielen durften – mit Publikum.“
Thöne macht den weltberühmten Nebenjob – „Wir stehen mittlerweile in fast jedem Reiseführer“ – vor allem deshalb gern, weil er etwas besonderes ist. „Das ist schon sehr einzigartig. Es ist eine Hamburgensie. Das macht schon Spaß, aber man macht es nicht fürs Geld“, so Thöne, der fest angestellt an der staatlichen Jugendmusikschule als Trompetenlehrer arbeitet und auch der Leiter des Posaunenchors im Michel ist.
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Langweilig sei ihm das Turmblasen noch nicht geworden. „Es ist zwar seit 30 Jahren jeden Tag das gleiche, aber es ist doch jeden Tag anders. Die Stimmung ist jedes Mal anders.“ Welchen Choral er spielt, macht er vom Kirchenjahr – Weihnachten, Ostern, Pfingsten – abhängig. Und von der eigenen Stimmung.
Von Ruhestand seien er und Huhn noch weit entfernt, versichert Thöne. Solange die Gesundheit das Turmblasen erlaube, wolle er weitermachen. „Man hat ja hier gesunde Höhenluft. Und, wenn der Lift ab und zu ausfällt, hält das auch jung und fit.“