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  • Sonja Jacobsen ist die Fraktionsvorsitzende der FDP in Bergedorf.
  • Foto: hfr

„Dünnsinn in der Krise“: Das antwortet eine FDP-Frau auf die Partei-Kritik der MOPO

„Dünnsinn in der Krise – wie Corona die FDP-Spitze entlarvt“ – vor wenigen Tagen ging MOPO-Chefredakteur Maik Koltermann mit den Liberalen hart ins Gericht. Sein Kommentar polarisierte, sorgte für Entrüstung und Zustimmung gleichermaßen. Und wurde auch bei der Partei-Basis rege diskutiert. Die Vorsitzende der FDP-Fraktion Bergedorf, Sonja Jacobsen, hat uns jetzt als Reaktion einen offenen Brief geschickt.

Lieber Maik Koltermann,

vielen Dank für Ihren Kommentar zur Wahrnehmung der FDP Spitze, der es leider auf den Punkt bringt.

Unsere natürlichen Wähler aber, die sie unter lustvoller Aneinanderreihungen von Klischees beschreiben – diese Selbstständigen und Mittelständler, alle Porsche-Cayenne-Fahrer, Investment-Banker mit Jagdschein, alle Nienstedtener und Sylt-Zweitwohnsitzhabende, die sich jetzt die Haare im Cabrio raufen und die Kugel geben, also, Golf spielen gehen im Garten hinterm Haus – wären in der von ihnen beschriebenen Hyper-Oberflächlichkeit, sicher nicht durch schlichte Formulierungen zu erschüttern. Für diese Karikaturen gilt ja nur: Wenn jeder an sich denkt, ist für alle gesorgt.

Sonja Jacobsen: Kritik an MOPO

Mit der Wirklichkeit meiner Partei und der FDP-Wähler hat ihr Kommentar allerdings so wenig zu tun wie der Tweet von Katja Suding mit den konkreten Problemen der Menschen in der Pandemie. Ich bin FDP-Kommunalpolitikerin in Hamburg-Bergedorf und Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter. Mein Mann ist Freiberufler im Konzertbereich und jetzt arbeitslos.

Mich und meine Wähler treibt zurzeit also weniger um, ob Chanel auf Sylt wieder aufmacht. Mich treibt um, wie ich meine Kinder zuhause unterrichte und wovon wir die nächste Miete bezahlen sollen.

Sonja Jacobsen sorgt sich um ihre Eltern

Wir beschäftigen uns viel mit Anträgen. Auf Corona-Schutzschirm, auf Arbeitslosengeld II und oder Wohngeld. Dabei ist klar, dass das Luxusprobleme sind – wie geht es den Klassenkameraden meiner Kinder, die mit ihren Familien in den Containern der Flüchtlingsunterkünfte wohnen. Wie den Kindern aus „belasteten“ Familien, wie es genannt wird, die mit Ihren belasteten Eltern in einer belastenden Situation zu Hause sind. Druck wird oft nach unten weitergegeben.

Mich treibt die Sorge um meine alten Eltern um. Hochrisikogruppe.

Mit Häme höre ich jetzt öfter: der Markt regelt eben doch nicht alles. So ein Quatsch. Aus welcher Vorstellung von „regeln“ kommt denn so etwas? Wie wenig sich eine Ausnahmesituation „regeln“ lässt erleben wir gerade. Und wenn der Virus Vorwand für ein Stellen der Systemfrage ist – soll der Staat dann alles regeln?

FDP-Frau macht sich für den freien Markt stark

Die, welche so etwas sagen, sind oft direkt oder indirekt beim Staat angestellt – aber Ihr schickes I-Phone hätte der Staatsbetrieb Deutsche Post, bei dem ich in den 80ern mein Schülerpraktikum gemacht habe, ganz sicher nie entwickelt.

Die Krise trifft meine Familie besonders, weil wir gerade eine saftige Steuernachzahlung hatten und eine noch viel saftigere Steuervorauszahlung. Damit waren die Reserven erstmal weg. Die FDP-Forderung, die Coronahilfe doch über Steuerstundungen abzuwickeln, klingt da wirklich nicht nach Dünnsinn.

Mein Bauchgefühl sagt mir, das wir am Ende genau da sitzen werden, wo laut Marion Gräfin Dönhoff der natürliche Platz des Liberalen ist: zwischen allen Stühlen. Wir werden wenig bis keine Unterstützung bekommen, das Eigenkapital für unseren Traum vom Wohneigentum aufbrauchen und danach wieder ordentlich Steuern entrichten. Die Gehälter im öffentlichen Dienst müssen ja pünktlich gezahlt werden.

FDP hat sich für die Freiberufler starkgemacht

Die FDP hat in dieser Krise dafür gekämpft, dass die Selbstständigen und Freiberufler mitgedacht werden, bei den Hilfsmaßnahmen. Das haben Sie als Festangestellter vielleicht nicht so mitbekommen. Und da genau zeigt sich die Klassen-Gesellschaft in Deutschland messerscharf. Die, welche direkt oder indirekt Ihr Geld von der „öffentlichen Hand“ bekommen. Ich kenne Staatsdiener, die gerade recht wenig zu tun haben, auf Kurzarbeitergeld muss keiner.

Die Festangestellten – zumal denen die auch Homeoffice machen können, so wie Sie zum Beispiel. Und die, welche unser System irgendwie gar nicht vorsieht: Selbstständige und Freie. Als Chefredakteur wissen Sie gut um die finanziell schwierige Lage der freien Mitarbeiter in den Medien.

Hamburger FDP-Frau kritisiert überkomplexes System

Wir haben jetzt bei uns in der Familie von jedem etwas: Geld vom Staat als Bezirksabgeordnete – Geld aus einer Festanstellung in Teilzeit und einen Freiberufler dessen Auftragsbuch wegen des Veranstaltungsverbotes leer ist.

Diese Einkommensmischung macht das Ausfüllen der Anträge nicht leichter. Denn unser System will Gerechtigkeit schaffen und ist darüber überkomplex geworden. Und kein System ist so ungerecht, wie ein System, das nicht mehr funktioniert.

Hier hat die FDP durchaus überzeugende Ansätze zu bieten, aber da würden sicher Stellen in der Verwaltung wegfallen und über 40 Prozent der Mitglieder der Regierungsparteien sind im Öffentlichen Dienst, bei den Grünen sogar noch mehr. 

Es die Aufgabe politisch Handelnder die Balance zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik zu finden. In diesem Spannungsfeld muss auch der wirtschaftliche Ruin vieler Menschen gesehen werden.

Corona: Sonja Jacobsen sorgt sich um Ärzte und Kinder

Keiner von uns möchte sich in die Lage eines Arztes versetzen, der entscheiden muss, wer von seinen Patienten nun das letzte verfügbare Beatmungsgerät bekommt und meine 78-jährige Mutter ginge dann leer aus.

Aber ich möchte mich auch nicht in die Lage eines Kindes versetzen, das jeden Tag in „sozialer Distanz“ 24 Stunden seinem dysfunktionalen Elternhaus ausgesetzt ist.

Eine Abwägung zwischen den beiden hohen Gütern des bedingungslosen Kampfes um jeden Tag Leben eines jedes einzelnen Menschen und den Lebensverhältnissen der gesamten Bevölkerung wiegt schwer.

Der Furor mit dem jedem, der es wagt, sich Gedanken darüber zu machen, die Menschlichkeit als solche abgesprochen wird, ist einfach. Deshalb hat es die Gesinnungsethik in Deutschland meist leichter als die Verantwortungsethik. In der Politik müssen wir aber immer an die Folgen denken.

In Bergedorf beklagen wir den Tod von zwei Menschen, die sich mit dem Corona Virus angesteckt hatten. Beide waren sehr alt und krank. Diese beiden Menschen haben die intensivmedizinische Versorgung abgelehnt, als sich ihr Zustand verschlechterte. Sie wollten ohne Apparate sterben. Eine freie Entscheidung, die wir achten.

Mit freundlichen Grüßen und bleiben Sie gesund,

Ihre Sonja Jacobsen

Vorsitzende der FDP Fraktion in der Bezirksversammlung Bergedorf

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