Ein Kreuzfahrtschiff

Jahrelang war Dr. Horst Schramm als Schiffsarzt auf Luxusschiffen unterwegs. In der Zeit erlebte er die verrücktesten Geschichten. (Symbolbild) Foto: Ankerherz/hfr

„Mann über Bord“ und Fragen der Moral

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Ein junger Kreuzfahrtpassagier (18) ist in der Dunkelheit der Nacht bei sechs Windstärken von Bord der „Aida Nova“ in die Ostsee gesprungen. Anscheinend war er stark betrunken. Sein Leben verdankt er dem seemännischen Können des Kapitäns, der das gewaltige Schiff schnell wendete, dessen Crew, die ihn aus dem kalten Meer zog – und einer fast ungehörigen Portion Glück.

„Mann über Bord“ ist eine Alarmsituation auf jedem Kreuzfahrtschiff. Die Meldung erinnerte mich an eine Episode, die mir ein alter Schiffsarzt für das Buch „Dr. Kreuzfahrt“ erzählte. Dr. Horst Schramm war nach seiner Zeit als Oberarzt eines Krankenhauses jahrelang und auf allen Meeren auf Luxusschiffen unterwegs. Ein Mediziner mit stählernen Nerven und eisernem Humor. Was man auch braucht bei akutem Blinddarm im Sturm auf der Biskaya, Darmverschluss vor Rügen oder Windstärke 15 unter Island.

„Mann über Bord“: eine Alarmsituation auf Kreuzfahrt

Mitten in einer Nacht, so berichtete er, entdeckte ein Matrose bei einem Rundgang in einem Barbereich Frauenschuhe und einen angefangenen Brief. Der Kapitän stoppte sofort das Schiff, ordnete eine Suchaktion an und ließ trotz der späten Stunde alle Passagiere in der Lounge zusammenrufen. Er fragte eindrücklich, wem Schuhe und Brief gehörten.

Eine junge Frau stand auf. Manche Passagiere, genervt und um den Schlaf gebracht, buhten. Schiffsarzt Schramm berichtete, dass einer der Gäste, ein „Vielfahrer“, der jungen Frau beim Frühstück hinterherrief: „Am besten wäre es doch gewesen, Sie wären gesprungen!“

„Zivilisation ist für mich keine Frage des sozialen Status mehr“

Durch das Buch zieht sich ein solches Verhalten der wohlsituierten Gäste als ein Muster. Ein Paar versuchte, die Reederei auf hohen Schadensersatz zu verklagen, weil ein Offizier bei einem Rundgang erwähnte, dass einer der Stabilisatoren vorübergehend Probleme machte. Blöd nur, dass die Frau des Schiffsarztes Fotos der angeblich Seekranken beim Tanztee aufnahm.


Stefan Kruecken hfr
Stefan Krücken

Der Autor: Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeireporter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie „Max“, „Stern“ und „GQ“ von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“ gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop. Weitere Bücher gibt es im Ankerherz-Shop – zum Beispiel „Das kleine Buch vom Meer – Helden“ oder „Mayday – Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze“.

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Andere Passagiere beschweren sich bei Sturm und Wellen über die „Unfähigkeit“ des Kapitäns, das Schiff „ruhig“ zu halten, oder brüllten Crewmitglieder an der Rezeption an, weil geplante Landausflüge ausfallen mussten. Einer der reichsten Gäste an Bord weigerte sich, trotz eines Bombenalarms im Hafen und persönlicher Intervention des Kapitäns, seine Suite und das Schiff zu verlassen.

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Neben den Abenteuern, dem Gallenanfall in der Arktis, einem Heiratsschwindler und einer Explosion von Kaviar im Mund blieb bei mir nach vielen Stunden Interviewzeit ein Satz des Schiffsarztes besonders hängen. Ein Satz, der so vieles auf den Punkt bringt. Doc Schramm sagte: „Zivilisation ist für mich nach meinen Reisen keine Frage des sozialen Status mehr.“

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