Ankerherz: Meine Geburtstags-Flucht auf die Klippen
Ich mache mir nicht viel aus dem Alter, das im Ausweis steht, denn ich habe durch meine Arbeit als Reporter manche Menschen kennengelernt, die mir mit 80 jünger erschienen als andere 30-Jährige. Kapitän Schwandt zum Beispiel. Ein Seemann, der hochbetagt Neuem gegenüber aufgeschlossen war und bis ganz zum Schluss neugierig blieb.
Am Wochenende bin ich nun 50 geworden. „Na und?“ dachte ich lange, doch je näher der Tag kam, desto unbehaglicher fühlte ich mich. 50? Klang noch vor ein paar Jahren nach Frühvergreisung, nach Vorruhestand und irgendwie nach Zähnen im Glas.
Meine Frau Julia rettete mich vor derlei Gedanken und fuhr mit mir nach Fuhlsbüttel. Wir landeten im Süden Londons, nahmen einen Mietwagen und schlossen kurz vor Mitternacht die Tür eines kleinen Cottage auf.

Der Autor: Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeireporter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie „Max“, „Stern“ und „GQ“ von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“ gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop. Weitere Bücher gibt es im Ankerherz-Shop – zum Beispiel „Das kleine Buch vom Meer – Helden“ oder „Mayday – Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze“.
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Der „50er-Blues“ war nicht weg, aber ich am Meer
Als ich aufwachte, schaute ich aus dem Bett über den Rand einer Klippe. Der „50er-Blues“ war nicht weg, aber ich am Meer.
Die sieben Kreidefelsen am Beachy Head östlich von Eastbourne, „Seven Sisters“ genannt, sind für meine Familie so etwas wie unser gefühltes Zuhause geworden. Einige Male schleppten wir unsere Kinder auf Wanderungen alle sieben Klippen hinauf.
In früheren Zeiten zerschellten Segelschiffe an den Klippen
Ich liebe den „Tiger Inn“, einen Pub aus dem 15. Jahrhundert, in dem ein ausgestopfter Tiger neben dem Tresen die Zähne fletscht. Angeblich existiert unter den Bohlen im Schankraum der Zugang zu einem Schmugglertunnel, der bis an die Klippen führt.

Die WochenMOPO – ab Freitag neu und überall, wo es Zeitungen gibt!
Diese Woche u.a. mit diesen Themen:
- CDU will Prostitution verbieten: Was eine Hure, ein Bordell-Betreiber und Freier sagen
- Abriss-Stadt: Wie Hamburg mal wieder sein Erbe zerstört
- Bundeswehr-Uni: Porno-Skandal kostet Oberst den Posten
- Mamma mia! Die verrückte Geschichte von Hamburgs ältestem Italiener
- Große Rätselbeilage: Knobelspaß für jeden Tag
- 20 Seiten Sport: Der geheime HSV-Raum für den Aufstieg & St. Paulis Kampf um den Klassenerhalt
- 20 Seiten Plan7: Indierocker Franz Ferdinand im Stadtpark & Start des Literaturfestivals „Hamburg liest die Elbe“
Es gibt Orte wie die alte normannische Kirche von Friston, auf deren Friedhof ein Kreuz steht. „Washed ashore“ steht drauf, „angespült an den Strand“. In früheren Zeiten zerschellten Segelschiffe an den Klippen oder verirrten sich im Nebel über der See.
„Beachy Head“ ist auch ein Ort der Legenden
Der „Beachy Head“ ist auch ein Ort der Legenden wie der des schwarzen Mönchs, der Menschen dazu verführte, in den Abgrund zu springen. Die düstere Geschichte hat vermutlich einen wahren Kern, denn so erklärte man sich einst das Phänomen, dass so viele hier den Freitod suchen. Freiwillige „Chaplains“ patrouillieren heute nach Anbruch der Dunkelheit über die Klippen, um Selbstmörder aufzuhalten.
An meinem Geburtstag spazierten wir los Richtung der Mündung des „Cuckmere River“ und rasteten auf der Spitze der vierten Schwester. Wir nahmen einen kleinen Schluck Whisky und sahen hinunter auf die See. Ein Kutter zog eine Linie ins Blau. Möwen kreisten. Und dann krachte es plötzlich gewaltig.
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Ein Stück Fels war abgebrochen und in die Tiefe gestürzt. Das Meer nagt an der Küste, Meter für Meter, bis irgendwann nichts mehr übrig ist. Alles ist vergänglich, auch dies ist eine Botschaft dieser majestätischen Küste.Ich nahm einen Schluck vom Tullamore Dew und sagte nichts.
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