Das Leid der Bianca S.: Wie eine grausame Infektion in Hamburg für Panik sorgte
Die Diagnose war ein furchtbarer Schock. Für die 18-jährige Bianca aus Eppendorf, für ihre Familie – und für eine ganze Schule in Harvestehude. Panik brach aus. Hektische Maßnahmen wurden eingeleitet. Noch heute erinnern sich ehemalige Mitschülerinnen an die dramatischen Wochen im Spätsommer 1958. Auch Biancas Bruder kann nicht vergessen.
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Die Diagnose war ein furchtbarer Schock. Für die 18-jährige Bianca aus Eppendorf, für ihre Familie – und für eine ganze Schule in Harvestehude. Panik brach aus. Hektische Maßnahmen wurden eingeleitet. Noch heute erinnern sich ehemalige Mitschülerinnen an die dramatischen Wochen im Spätsommer 1958. Auch Biancas Bruder kann nicht vergessen.
Als Bianca und ihr Bruder Hans in den Sommerferien vor Santa Marinella ins Meer sprangen, ahnten sie nicht, dass dieses Bad ihr Leben für immer verändern sollte. Die beiden Geschwister verbrachten den Urlaub wie jedes Jahr mit ihren Eltern in Italien, der Heimat der Mutter.
Infektionsgefahr am Mittelmeer-Strand: In den Abwässern lauerten gefährliche Viren
In Briefen und auf Postkarten an ihre Freundinnen beschreibt Bianca das Leben einer fröhlichen Jugendlichen. Es geht um erste Lieben, schüchterne Verehrer, um Kinobesuche, Tanzstunden und darum, was sie den Freundinnen aus Italien mitbringen könnte. Schuhe. Handtaschen. Italienischer Chic, den es in Hamburg nicht zu kaufen gab.
Die Vorderseite der Postkarten zeigen Aufnahmen von Santa Marinella. Aber die hübsche Fassade des nur 50 Kilometer vor den Toren Roms gelegenen Strandorts täuschte darüber hinweg, dass die unter Mussolini trockengelegte Sumpfregion südlich der Hauptstadt immer noch ein Hort für Krankheiten war.
Ein großes Problem war Malaria. Außerdem schlummerten in den Abwässern aus der Metropole, die wie in Santa Marinella ungefiltert ins Meer geleitet wurden, gefährliche Viren. Wozu das führen konnte, erfuhr die Familie jedoch erst nach der Rückkehr nach Hamburg.
Nach Biancas Diagnose wurde das Heilwig-Gymnasium für eine Woche geschlossen
Beide Geschwister zeigten plötzlich schwere Krankheitssymptome. Bianca bekam schlecht Luft und hatte Lähmungserscheinungen. „Meine Schwester wurde mit Blaulicht ins AK Altona geliefert. Ich noch in der selben Nacht gleich hinterher“, erinnert sich der heute 80-jährige Bruder Hans. Die Diagnose habe „wie eine Bombe“ eingeschlagen: Polio. Kinderlähmung. Todesgefahr.
Das Heilwig-Gymnasium am Harvestehuder Weg, das Bianca besuchte, wurde panisch für eine Woche geschlossen. Alle Gegenstände im Klassenzimmer rund um ihren Sitzplatz wurden verbrannt, die Schülerinnen beobachtet, weiß eine heute 81-Jährige, die eine Klasse unter Bianca war. Es war die Zeit vor Einführung der Schluckimpfung. Polio-Ausbrüche waren eine allgegenwärtige Gefahr.
Auch am AK Altona gab es mehrere Patienten. Bianca aber war ein besonders schwerer Fall. Sie konnte sich nicht mehr rühren – weder die Arme oder Hände noch die Beine oder Füße. Nicht einmal den Kopf konnte sie bewegen. Wegen der Atemlähmung kam sie in die Eiserne Lunge, jener riesige Apparat, aus dem nur der Kopf des Patienten herausschaute und der die Beatmung komplett übernahm.
Bianca bekam keine Luft mehr und musste dauerhaft an Beatmungsmaschinen
Während Hans‘ Zustand sich bald besserte und er nach einer Quarantänezeit nach Hause konnte, blieb Bianca im Krankenhaus. Ein halbes Jahr verging. „Eigentlich war klar, dass die Lähmungen nicht mehr weg gehen würden. Aber man hat immer weiter Hoffnung gehabt“, erinnert sich der Bruder.
Die Aussichtslosigkeit brachte die Ärzte am AK Altona dazu, nach einer Lösung zu suchen, wie Bianca zu Hause betreut werden konnte. Dafür wurde ihr ein von dem Internisten Axel Dönhardt für die Firma Dräger neu entwickeltes Gerät zur Verfügung gestellt: der Poliomat, mit dem Bianca per Luftröhrenschnitt verbunden wurde.
Es gibt viele Fotos aus den darauf folgenden vier Jahren, die Bianca mit dem Metallrohr und Gummischlauch am Hals zu Hause in ihrem Krankenbett zeigen. Sie wird immer dünner und dünner. Ihr Blick drückt eine unendliche Traurigkeit aus. „Sie wusste, dass es keine Heilung gab. Das wurde zu einer schwierigen emotionalen Belastung“, sagt Hans. Bianca habe viel geweint. „Wir mussten sie immer ablenken und erheitern.“
Gefangen im eigenen Körper: Bianca aus Eppendorf war von Kopf bis Fuß gelähmt
Doch wie erfreut man jemanden, dem sein eigener Körper zum Gefängnis geworden war? Biancas Freundinnen hielten zu ihr. Sie kamen oft zu Besuch, brachten Champagner mit und Geschenke. Sie trösteten und streichelten die Gelähmte. Auch Biancas Verlobter ist auf den Fotos jener Zeit zu sehen. „Peter und sie wollten eigentlich heiraten, sobald Bianca Abitur hatte“, erzählt der Bruder. Aber ein Jahr nach der Infektion entschied sich Peter, eigene Wege zu gehen. „Er hatte keine Kraft mehr“, sagt Hans verständnisvoll.
Ein Fernseher wurde zu Biancas Unterhaltung angeschafft. Doch auch für Hans und seine Mutter – der Vater war beruflich meist unterwegs – wurde die Pflege zu einer enormen Belastung. Denn der Poliomat wurde über einen Keilriemen betrieben. Und der riss alle paar Wochen!
„Wenn das passierte, musste man innerhalb von 30 Sekunden am Bett sein und das Gerät schnell gegen eine Handpumpe eintauschen“, erzählt Hans. Sonst wäre Bianca erstickt. Dann saßen Mutter und Bruder oft über viele Stunden neben dem Bett und wechselten sich mit Pumpen ab, bis ein neuer Keilriemen besorgt war. Weil Hans seine Mutter nicht allein lassen konnte in dieser Situation, nahm er ein Studium in Hamburg auf und blieb zu Hause wohnen.
Nach fünf Jahren starb Bianca an Nierenversagen
Fünf Jahre nach der Infektion starb Bianca an Nierenversagen. „Sie hat sich ja oft den Tod gewünscht“, schreibt Peter an eine Freundin Biancas, die ihm die schlechte Nachricht per Brief mitgeteilt hatte. Auch Hans sagt heute: „Bei aller Tragik war es auch eine Erlösung.“
Den Tod Biancas haben Hans und seine Eltern nie verwunden. Die schreckliche Infektion wurde für sie zum Lebenstrauma. Die Schluckimpfung gegen Polio, die in der Bundesrepublik nach 1961 eingeführt wurde und die die Zahlen an Neuerkrankungen praktisch auf Null zurück gehen ließ, ist für Hans bis heute eine der wichtigsten Errungenschaften der Medizingeschichte.
Impfgegner: Polio-Infektionen steigen wieder
Umso unverständlicher ist für ihn die sinkende Impfbereitschaft. Sie hat in den vergangenen Jahren wieder zu einem Anstieg der Polio-Infektionen geführt, obwohl es zwischendurch schien, als sei die Krankheit ausgerottet. Am 10. September 2022 rief die Gouverneurin des US-Bundesstaats New York den Katastrophenfall aus, nachdem im Abwasser eine Häufung an Polioviren nachgewiesen worden waren und ein Mann schwer erkrankt war.
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Die Weltgesundheitsorganisation zählte allein für das Jahr 2022 bereits 272 Fälle von durch Polio ausgelöste Lähmungen. Genau 60 Jahre nach Biancas Tod gibt es nun wieder Hunderte von Menschen, denen das gleiche Schicksal droht wie dem Mädchen aus Hamburg-Eppendorf: die lebenslängliche Gefangenschaft im eigenen Körper.