Kiez-Attacke: Er schlug mir den Schädel ein, weil ihm mein Aussehen nicht passte
Der Schlag kommt aus dem Nichts. Direkt ins Gesicht – und Samia Stöcker (35) knallt auf den Asphalt. Sie verliert das Bewusstsein, liegt mit blutendem Kopf auf dem Gehweg vor dem Schnellrestaurant „KfC“ an der Reeperbahn. Noch heute, mehr als ein Jahr später, leidet sie unter den Folgen der Attacke. Am Dienstag beginnt vor dem Amtsgericht Hamburg der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Die MOPO hat mit Samia Stöcker über den Angriff gesprochen.
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Der Schlag kommt aus dem Nichts. Direkt ins Gesicht – und Samia Stöcker (35) knallt auf den Asphalt. Sie verliert das Bewusstsein, liegt mit blutendem Kopf auf dem Gehweg vor dem Schnellrestaurant KFC an der Reeperbahn. Noch heute, mehr als ein Jahr später, leidet sie unter den Folgen der Attacke. Am Dienstag beginnt vor dem Amtsgericht Hamburg der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Die MOPO hat mit Samia Stöcker über den Angriff gesprochen.
In der Nacht des 17. Juli 2021 ist Samia Stöcker mit einem Kumpel auf dem Kiez unterwegs. Ein paar Drinks, ein bisschen feiern. Sie hat zehn Jahre als Drag Queen hier gearbeitet, kennt das Viertel gut. Als ihr Freund Hunger bekommt, machen sie sich vom Hans-Albers-Platz auf dem Weg zum KFC an der Ecke Hamburger Berg. Plötzlich wird Stöcker von einem Mann angepöbelt und transphob beleidigt. Sie wehrt sich verbal, er schubst sie. Dann folgt der Schlag des zweiten Mannes. Mit der Faust direkt ins Gesicht. Knockout.
Hamburg: 22-Jähriger schlägt Trans* Frau bewusstlos
Samia Stöcker erleidet einen Schädelbruch, hat innere Blutungen und eine Platzwunde. An die Tat selbst erinnert sie sich nicht – ein Blackout von fast sieben Stunden. Den Ablauf des Angriffs kennt sie nur durch ihren Anwalt und die Überwachungskameras des Restaurants. Erst im Krankenhaus wacht sie wieder auf und bleibt dort fünf Tage. Mit den Folgen des Angriffs hat sie heute noch zu kämpfen. Sie besucht die Trauma-Ambulanz des UKE, ist in neuropsychologischer Behandlung. Dort habe man herausgefunden, dass ihre Gehirnleistung um 50 Prozent abgenommen hat, erzählt Stöcker. Es fühle sich an wie ein Vakuum im Kopf. „Gewisse Verbindungen in meinem Gehirn funktionieren nicht mehr.“
Samia Stöcker lebte bis vor fünf Jahren als schwuler Mann, seitdem als Trans* Frau. Sie arbeitete bis zu dem Angriff als Drag Queen Sina Valentina, ist gelernte Visagistin. „Ich wollte mich umbringen als Mann. Ich war nur noch eine Hülle, nur noch ein Körper, mein Gefühl passte einfach nicht mehr zu dem, was ich gesehen habe.“ Sie habe sich dann letztendlich im UKE auf die Warteliste für Trans* Personen setzen lassen, nach einem Jahr Begutachtung folgte die Hormontherapie. „Das war für mich die Erlösung. Ansonsten gäbe es mich heute nicht mehr.“
Doch sie habe nicht damit gerechnet, dass ihre Umwelt so einen Anstoß an ihrer Lebensentscheidung nehmen würde. „Die Diskriminierung ist schlimmer geworden, seit ich als Trans* Frau lebe“, erzählt sie. Immer wieder wird sie von fremden Menschen auf offener Straße angepöbelt, beleidigt, bedroht. Es fallen Sätze wie: „Du bist eklig, verpiss dich“, „Was du gemacht hast, ist gegen Gott“ oder „Verlass diese Straße oder ich bringe dich um“. Die 35-Jährige erzählt, wie der Hass sie anfangs überforderte. Sie sei zu ihrem behandelnden Arzt im UKE gegangen und habe ihm davon erzählt. Seine Antwort: „Haben Sie das nicht gewusst? Schauen Sie sich die Bücher hier im Regal an, sie handeln alle davon.“
Samia Stöcker: „Die Diskriminierung ist schlimmer geworden“
Ihrer Erfahrung nach hätten vor allem Männer mit Migrationshintergrund ein Problem mit ihrer Lebensweise. In vielen muslimischen Ländern ist Homosexualität eine Straftat, ganz zu schweigen von Transsexualität. Stöcker spricht von Parallelgesellschaften, anderen Werten und traumatisierten Menschen, um die sich hier niemand gekümmert habe. Sie ist froh, dass man nach Silvester über das Problem spreche. „Was da im Großen passiert ist, ist mir im Kleinen passiert.“
Für junge Männer sei es ganz normal „du Schwuchtel, Schwanzlutscher, du schwule Sau“ zu sagen. „Die sind in ihrer Gruppe cool, wenn sie gegen etwas sind: Wenn sie jemanden beleidigen, jemanden diskriminieren, wenn sie Raketen auf Polizeiautos schießen, wenn sie Raketen auf Menschen schießen.“
Bei dem Ablauf homo- und transphober Angriffe sei ein Schema zu beobachten: „Die Vorgehensweise ist immer die gleiche: Leute provozieren dich, fordern dich heraus, schlagen zu und sind sich überhaupt nicht bewusst, welche Folgen das haben kann. Diese jungen Männer geilen sich daran auf und sagen untereinander, ja, ich hab‘ ne Transe geprügelt.“
Trans* Frau möchte Vorbild für andere Opfer sein
Seit dem Angriff habe sich ihr Leben komplett verändert. „Ich gehe nicht mehr raus, nicht mehr feiern. Ich meide Großveranstaltungen“, erzählt sie. „Auch nach dem Krankenhausaufenthalt habe ich weiterhin Schwindel, Sehstörungen, bin schwankend über die Straße gelaufen. Ich musste teilweise stehenbleiben, weil ich dachte, ich kippe um. Zweimal bin ich wirklich in meiner Wohnung umgefallen.“
Der Trans* Frau ist wichtig, dass viele Menschen von ihrem Schicksal erfahren. Sie möchte ein Zeichen setzen, die Gewalt gegen ihre Community sichtbarer machen und dazu ermutigen, dass sich mehr Leute trauen, transphobe Straftaten anzuzeigen.
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In dem Prozess gegen den mutmaßlichen 22-jährigen Täter tritt sie als Nebenklägerin auf. Der junge Mann muss sich ab Dienstag vor dem Jugendschöffengericht wegen Körperverletzung verantworten. Zur Tatzeit war der Kampfsportler 20 Jahre alt.