Schwere Behinderung: Krankenkasse lässt Evelyn (7) im Stich
Seit ihrer Geburt kann Evelyn (7) nicht gut hören. Die Welt um sie herum ist eine einzige rauschende Geräuschkulisse. Einzelne Töne kann sie schlecht zuordnen, was besonders im Straßenverkehr ein großes Problem ist. Doch obwohl schwerbehinderte Kinder wie das Mädchen aus Flensburg Anspruch auf Hilfsmittel haben, will die Krankenkasse ihr keine Hörgeräte bezahlen. Kein Einzelfall!
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Seit ihrer Geburt kann Evelyn (7) nicht gut hören. Die Welt um sie herum ist eine einzige rauschende Geräuschkulisse. Einzelne Töne kann sie schlecht zuordnen, was besonders im Straßenverkehr ein großes Problem ist. Doch obwohl schwerbehinderte Kinder wie das Mädchen aus Flensburg Anspruch auf Hilfsmittel haben, will die Krankenkasse ihr keine Hörgeräte bezahlen. Kein Einzelfall!
„Ich hatte das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt“, erinnert sich Evelyns Mutter Ramona Bach an die Zeit, als ihre Tochter noch ein Baby war. Während die anderen Kinder in den Krabbelkursen anfingen zu brabbeln und auf Dinge zu zeigen, kam von Evelyn kaum eine Reaktion. Sie hatte Angst vor Geräuschen, Angst vor harmlosen Dingen wie Seifenblasen und schrie viel.
Die Ärzte stellten bei Evelyn (7) zahlreiche Behinderungen fest
Als Evelyn nicht ordentlich sprechen lernte, versuchte die Mutter, sich Hilfe zu holen. Doch bis klar war, woran das Mädchen litt, vergingen vier Jahre. Seitdem ist klar: Evelyn ist Autistin. Sie hat Entwicklungsverzögerungen im Bereich Sprechen und Motorik. Sie leidet an Mutismus (Schweigen gegenüber bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen) – um nur einige der vielen Diagnosen zu nennen, welche die Ärzte bei dem Mädchen gestellt haben.
Evelyn ist zu 60 Prozent schwerbehindert. Sie besucht eine Inklusionsklasse und kommt im Unterricht nur mit, weil sie Hörgeräte trägt und zusätzlich eine Hörübertragungsanlage, eine sogenannte FM-Anlage, hat. Das Problem: Die Geräte kosten 4700 Euro. Hinzu kommen Kosten für die Ohrmuscheln, die zwei bis drei Mal im Jahr erneuert werden müssen, für Batterien und Reinigungsmittel. Viel Geld, das Ramona Bach als alleinerziehende Mutter nach einer Frühverrentung nicht hat.
Krankenkasse AOK lehnt Kostenübernahme für Hörgeräte ab
Knapp 1300 Euro hat die gelernte Einzelhandelskauffrau für sich und ihre Tochter zum Leben. Nach Abzug von Miete und den Kosten für Auto, Versicherungen, Handy, Lebensmittel, etc. bleibt davon fast nichts übrig. Dennoch hat die Krankenkasse AOK eine Kostenübernahme abgelehnt. Dabei verwies die AOK auf ein Gutachten seitens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), das Evelyn ein „normales Hörvermögen“ zuschrieb. Nur: Das Mädchen wurde nie vom MDK untersucht! Das Gutachten wurde rein auf Aktenbasis angefertigt.
Genau das ist keine Seltenheit. Die bayerische Ärztin Dr. Carmen Lechleuthner, selbst Mutter eines behinderten Sohnes, hatte im vergangenen Jahr eine Petition im Internet gestartet, um eine „direkte Kostenübernahme für verordnete Hilfsmittel“ bei schwerbehinderten Menschen zu fordern, die Abschaffung von Gutachten nach Aktenlage und eine Reform des MDK. Sie wurde 55.000 Mal unterschrieben.
Viele Eltern mit behinderten Kindern fühlen sich allein gelassen
In den Kommentaren zeigte sich, wie viele Menschen in Deutschland sich alleingelassen fühlen. Statt Hilfen zu bekommen, werden den durch die Schwerbehinderung ohnehin schon stark belasteten Familien nur noch mehr Steine in den Weg gelegt. Sie müssen um jeden Cent kämpfen, Widerspruch gegen abgelehnte Bescheide einlegen und vor die Gerichte ziehen.
Nicht jeder ist dazu in der Lage – weder kräftemäßig noch intellektuell. Lechleuthner hat mit ihrer Initiative ins Schwarze getroffen. Die Petition entfaltete eine enorme Wirkung und führte zur Gründung eines Aktionsbündnisses, das von Ärzteverbänden, Patientenorganisationen und Fachverbänden unterstützt wird.
Das Bündnis erreichte, dass die Petition im Bundesgesundheitsministerium landete, dass der Gemeinsame Bundesausschuss sich mit dem Thema befasste und einige Passagen im Koalitionsvertrag landeten, die auf die Initiative zurückgehen. Dennoch ist Leuchleuthner vorsichtig: „Praktisch hat sich bei den Familien leider noch nichts verbessert“, so die Ärztin. Die deutsche Gesetzgebung sei viel zu langsam.
Mutter Ramona Bach will gerichtlich gegen die Entscheidung der AOK vorgehen
Verbände wie RehaKIND, Kindernetzwerk oder verschiedene Kinderhospize berichten sogar von einer tendenziellen Verschärfung der Lage, der aus dem hohen Spardruck der Krankenkassen resultiert. Dabei machen die Hilfsmittel für Kinder laut Dr. Lechleuthner weniger als ein Prozent der Gesundheitsausgaben aus.
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Die AOK hält an ihrer Entscheidung fest: „Die gesetzlichen Krankenkassen sind nach § 275 SGB V verpflichtet, eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen. An diese Begutachtung sind die Krankenkassen gebunden“, heißt es in einem Statement gegenüber der MOPO. Es seien „keine medizinisch-rechtlichen Voraussetzungen für eine Kostenübernahme der Hörgeräte für Evelyn“ festzustellen gewesen. Die Frage, warum das Mädchen nie direkt von einem Gutachter untersucht wurde, ließ die Kasse unbeantwortet.
Ramona Bach will sich nicht unterkriegen lassen. Gegen jeden abgelehnten Antrag hat sie Widerspruch eingelegt. Inzwischen hat sie sich einen Anwalt genommen und klagt vor Gericht um ihr Recht. Bis dahin stottert sie die 4700 Euro plus Extrakosten in Raten ab. „Die Geräte zeigen Wirkung. Evelyn ist aufmerksamer geworden und begreift viel mehr als früher. Sie wird selbstständiger und entwickelt dadurch mehr Selbstbewusstsein“, freut sich die Mutter. Evelyns Lehrerin bestätigt das. Auch sie hat an die AOK geschrieben. Vielleicht hilft es ja.