Alt-Punker Schorsch Kamerun: „Auto-Prolls, HSV-Fans – ständig haben uns Gangs gejagt“
Schorsch Kamerun ist sein Leben lang Punk geblieben – und Tausendsassa. Mit 18 Jahren kam der 58-Jährige, der eigentlich Thomas Sehl heißt, einst nach Hamburg. Geblieben ist er bis heute auf St. Pauli – oder in der Nähe. Gerade erst hat Schorsch Kamerun eine neue Band gegründet.
Für immer Punk. Das wollte er sein. Der Mann, der vor seiner Haustür auf dem Kiez sitzt und in die zwischen den Altbauten durchblickende Sonne blinzelt. In der einen Hand ein Marmeladenbrot, in der anderen ein Frühstücksbrettchen.
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Schorsch Kamerun ist sein Leben lang Punk geblieben – und Tausendsassa. Mit 18 Jahren kam der 58-Jährige, der eigentlich Thomas Sehl heißt, einst nach Hamburg. Geblieben ist er bis heute auf St. Pauli – oder in der Nähe. Gerade erst hat Schorsch Kamerun eine neue Band gegründet.
Für immer Punk. Das wollte er sein. Der Mann, der vor seiner Haustür auf dem Kiez sitzt und in die zwischen den Altbauten durchblickende Sonne blinzelt. In der einen Hand ein Marmeladenbrot, in der anderen ein Frühstücksbrettchen.
Vielleicht ist er heute leiser. Bedachter. Doch Punk ist Schorsch Kamerun (58) noch immer. Er hinterfragt und kritisiert seit Jahrzehnten Autoritäten und Verhältnisse – als Sänger der Goldenen Zitronen, Theaterregisseur und Autor. Und bald mit seiner neuen Band Raison.
„,No Future‘-Fuckfinger – das hat die Bürger irritiert“
Weg von den Rasen mähenden Kleinbürgern. Dem Nazi-Deutschlehrer und den Touristenhorden. Die Enge seines Heimatortes Timmendorfer Strand war für Schorsch schon als Kind kaum zu ertragen. Ewig ging es nur ums Geschäftemachen. Sobald der Sommer kam, zogen die Familien in den Keller oder auf den Dachboden. Um die guten Zimmer frei zu machen für noch mehr Touris. So war es auch bei ihm zu Hause. In der Pension „Sonnenwinkel“, dem „Damenhaushalt“, in dem er mit seiner Oma und Mutter lebte.
Mit sechs Jahren änderte sich alles. Er zog kurz nach der Einschulung in Timmendorfer Strand nach Reinbek. Mitten ins Gewerbegebiet. Zu seinem Stiefvater – einem Autohaus-Besitzer. Der war Chef in der Firma und zu Hause. „Wirklich gruselig. Das war eine böse Zäsur für mich“, sagt Schorsch. Die Beziehung zerbrach, als er elf Jahre alt war. Eine laute Trennung, „ein Gemetzel“, wie Schorsch sagt. Er wurde zum Zündelkind. „Ich habe angegriffen, Ärger gemacht. Briefkästen angezündet, fast mal eine Chemiefabrik in dem Gewerbegebiet. Es war meine Art, mich zu melden.“ Dadurch habe er ein gestörtes Urvertrauen in das, was Zuhause bedeutet, und habe unbedingt weggemusst.
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„Immer wegzuwollen und unterwegs zu sein ist aber auch anstrengend. Ein ständiger Beziehungszweifel.“ Allerdings speise er daraus unterschiedliche Sensibilitäten. Auch sein sich Abkämpfen mit Autoritäten. „Das erklärt eigentlich mein Schaffen. Mit Punk konnte man zeigen, dass einem die Umgebung missfällt. Bunte Haare, Unordnung schaffen und ,No Future‘-Fuckfinger – das hat die Bürger damals wirklich irritiert.“
Aber es sei auch aufreibend gewesen. „Wir wurden ständig von irgendwelchen Gangs gejagt. Bundeswehrleute, Auto-Prolls, HSV-Fans – wir hatten viele Feinde. Einmal hat ein Typ sogar mit einer scharfen Waffe auf mich geschossen.“ Ärger zu Hause, in der Schule, bei der Ausbildung. Aber Punk zu sein, war eine bewusste Entscheidung. Für Schorsch das Ticket, um rauszukommen.
So kam er nach der neunten Klasse der Bitte seines Rektors „Ich wünsche mir, dass Sie nach dem Sommer nicht wiederkommen“ gerne nach. Schorsch fand das schlau. Keine Schule mehr. Aber auch keinen Abschluss. Einfach auf der Straße leben? „Das habe ich mich nicht getraut.“ Also machte der Jugendliche eine Lehre zum Kfz-Mechaniker. „Auch keine gute Idee.“ Jedoch der Weg aus der Einöde.
Schorsch Kamerun kommt mit 18 nach Hamburg
Schon während der Ausbildung zog Schorsch als 18-Jähriger nach Hamburg. Er kannte die Stadt, St. Pauli und das Karoviertel von Punkkonzerten. „Damals traf sich die gesamte deutsche Punkszene an wenigen Orten. Immer dieselben 1000 Leute.“ Auch die Toten Hosen und Ärzte, als sie noch keine Toten Hosen und Ärzte waren. Nach den Konzerten ging es auf den Kiez. Obwohl es „mordsgefährlich“ war. „Es gab ständig Leute, die uns Scheiße fanden. Wir sind immer nur gerannt. Wir waren ,die Jungs‘, keine ,richtigen‘ Männer. Ein Stück weit ist das auch so geblieben.“
Einmal floh er in einen Sexshop. Der Besitzer schmiss ihn raus, weil er noch zu jung war. „Es war wirklich tough. Man hat öfter mal was abgekriegt.“ Trotzdem wollte er nach St. Pauli. Schorsch zog in eine WG am Fischmarkt. 150 Mark kostet die Wohnung damals. Für sechs Personen. „In den frühen 80er Jahren gab es das St. Pauli von heute noch nicht. Der Kiez war ultraarm und ultrarau. Das Image gibt es immer noch ein wenig, aber eher als attraktive Marke. Irgendwann ist das Wasser entdeckt worden und dann waren hier auf einmal Living-Lofts und Working-Spaces.“
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In seiner Erinnerung sei es gekippt, als der „Cats“-Bus hielt. Mit dem Musical kamen die Bürger zurück. Heute nenne man das Gentrifizierung. „Ich selber wohne hier, weil ich es mir noch leisten kann. Ich mag das Gefühl von Gemeinsamkeit. Awareness – man ist füreinander da.“ Aber zum Teil komme man sich nur noch vor wie Tapete. Für St. Pauli-Touris, die nur feiern und verzehren wollen. „So ist das mit Gentrifizierung, wir Kreativklässler sind selbst Teil davon. Nur wenn es dir nicht mehr passt, musst du eben gehen oder noch besser: kämpfen.“ Sich dagegen zu wehren, findet er legitim.
Seit Jahrzehnten lebt der Künstler auf St. Pauli oder zumindest in der Nähe. „Ich komme hier nicht so ganz weg. Aber nicht weil ich ein so großer Kiezfan bin. Es sind die Menschen, die ich hier schätze.“ Und der Wunsch nach kollektiver Gestaltung. St. Pauli selber machen – das haben auch Schorsch und sein Freund Rocko Schamoni mit dem „Pudel“. Sie wollten das Gegenteil schaffen von immer professionellerer, teurerer Ausgehkultur. Einen Club für alle. Von Leuten für Leute. Mit politischer Haltung.
Schorsch Kamerun schätzt die Menschen an St. Pauli
Anfangs war der „Pudel“ noch an der Schanzenstraße/Ecke Bartelsstraße. Rocko Schamoni hatte den Schlüssel für die leerstehende Kneipe in die Hand gedrückt bekommen, um sein Fahrrad dort abzustellen. „Ab und zu haben wir unsere sogenannte Actionlist durchtelefoniert und Leute per Festnetz eingeladen. Total anstrengend.“ Freitagnachmittag habe er am Telefon gesessen und immer wieder denselben Text aufgesagt. „Heute Abend spielt Helge Schneider und wir haben einen Countrymusic-Techno-Dancefloor. Kommt alle!“
Dann stieg „Wiener-Norbert“, ein erfahrener Gastronom, mit ein und sie fanden den Laden am Hafen. Eine denkmalgeschützte Hütte, früher Schmugglerknast, die niemand haben wollte. „Bürger wollten hier nirgends sein. Außer im Rotlicht und auf dem Fischmarkt.“
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Der „Golden Pudel Club“ funktionierte ziemlich schnell, ziemlich gut. Ohne dass die Betreiber vorher in den Ausbau investierten. „Es ist alles so geblieben, wie es war. Wir hätten auch keine Mark für Inventar gehabt.“ Anfangs sei jemand wegen der Konzession gekommen. Der Behördenmitarbeiter schaute sich im Laden um und kam lachend wieder raus. „Er sagte nur, dass er uns das niemals konzessionieren würde.“ Bei dem ein oder anderen Schnaps überdachte der Mann seine Entscheidung. Allerdings bekam Schorsch eine Auflage: Er musste den „Hackschein“ in der Handelskammer machen.
„Das war wirklich krass. Da musste ich am Wochenende zwei Vormittage zusammen mit anderen Gastronomen jeweils vier Stunden hocken und mir anhören, wie man mit Lebensmitteln umgeht.“ Es roch unglaublich nach Alkohol. Die verkaterten Gastronomen versuchten, irgendwie durch den Tag zu kommen. Bloß nicht einschlafen. Wer wegnickte, musste zur Strafe am nächsten Wochenende wiederkommen. Schorsch blieb wach. Und bekam den „,Golden Pudel Club‘-Hackschein“. „Wenn nichts mehr geht, kann ich damit auch noch immer eine Imbissbude aufmachen“, sagt der Künstler lachend.
Punk-Ikone Schorsch Kamerun gründet neue Band
Heute wird der „Pudel“ von zwei Stiftungen finanziert. Nachdem der Club 2016 durch eine unaufgeklärte Brandstiftung zerstört worden war, sorgte die große Solidarität dafür, dass der „Pudel“ eine Zukunft hat. „Wir sind als Verein für immer berechtigt, das Programm zu machen. Dieser Raum ist und bleibt freidenkend und dem Investorenmarkt entzogen.“ Schorsch ist nach wie vor aktiv, allerdings eher als „tüdelige Alterspräsidentin oder so was, die richtige Arbeit leisten die echten Chefs“. Hauptsächlich ist er als Autor und Regisseur tätig. Etwa 60 meist selbst geschriebene Stücke hat er bereits an Theatern inszeniert. Im Herbst folgt eine Oper in Bremen.
Vorher steht aber noch ein anderes Projekt an. Schorsch hat mit Mense Reents und PC Nackt die Band Raison (franz.: Vernunft) gegründet. Im Juni erscheint das Debütalbum „So viele Leute wie möglich“ – größtenteils politische Texte, die man sich vielleicht etwas entspannter anhören könne als Die Goldenen Zitronen. „Bei den Zitronen musst du anders zuhören. Dazu abwaschen läuft nicht. Auch weil der Sänger so stark nervt. Mir hat mal jemand gesagt, ich sei die Hildegard Knef des Punks.“ Ein meckeriges, nervöses, hysterisches Singen. Schorsch lacht. Na ja, Hauptsache, die Haltung stimmt.
Steckbrief Thomas Sehl (58)
Spitzname und Bedeutung: Schorsch Kamerun. Wir wollten was anderes sein als das, was vorgesehen war. Das Kamerun klang weit weg. Aber Schorsch davor – weiß ich auch nicht. Mein Name ist ein bisschen danebengegangen.
Beruf/erlernte Berufe: Singdrossel/Kfz-Mechaniker
St. Pauli ist für mich … „die einzige Möglichkeit“.
Mich nervt es tierisch, wenn … es nichts zum Nerven gibt.
Ich träume davon, … dass die Welt sich entgrenzt.
Wenn mir einer blöd kommt, … begegne ich ihm schlau.
Zum Abschalten … gehe ich ins Atomkraftwerk.
Als Kind … war ich auch schon scheiße.
Vom Typ her bin ich … bin ich eher ein ganz, ein Süßer.