Brutale Angriffe: Hamburgs Retter haben Angst
Sie retten Leben, sind Tag und Nacht im Einsatz, werden aber immer häufiger bei der Ausübung ihres Berufs physisch wie verbal angegriffen: Rettungskräfte, Notärzte, Sanitäter und medizinisches Personal. Trotzdem werden diese Angriffe bei Hamburgs Behörden nicht vollständig registriert. Es gibt Notärzte und Retter, die sich nun sogar auf eigene Kosten für ihre Sicherheit sorgen.
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Sie retten Leben, sind Tag und Nacht im Einsatz, werden aber immer häufiger bei der Ausübung ihres Berufs physisch wie verbal angegriffen: Rettungskräfte, Notärzte, Sanitäter und medizinisches Personal. Trotzdem werden diese Angriffe bei Hamburgs Behörden nicht vollständig registriert. Es gibt Notärzte und Retter, die sich nun sogar auf eigene Kosten private Schutzwesten angeschafft haben.
Feuerwehrleute mehrerer Innenstadt-Wachen haben Geld zusammengelegt und sich hieb- und stichfeste sogenannte Kevlar-Westen und Protektorenhemden angeschafft. Bezahlt haben sie die aus eigener Tasche, „weil die Angriffe immer brutaler werden“, so betroffene Retter zur MOPO, die anonym bleiben wollen.
Hamburg: Angriffe auf Retter – einige tragen schon Kevlar-Westen
Ein paar Beispiele: Die Menschen würden sich „höchst aggressiv“ über auf der Straße im Einsatz geparkte Rettungswagen aufregen. Erst vor wenigen Wochen hätte sich in Rahlstedt ein Mann dermaßen darüber geärgert, dass sein Auto zugeparkt war, dass er auf den Rettungswagen eingetreten hat. Einer weiterer bespuckte Sanitäter. In beiden Fällen ging es für die Retter um Leben und Tod: Ein Patient hatte eine Hirnblutung erlitten.
Während der Zeit der Corona-Regeln, als es unter anderem verboten war, Angehörige in Kliniken zu besuchen, soll es ebenfalls oft zu körperlicher Gewalt gekommen sein. In einem Krankenhaus im Osten Hamburgs sei einem Mitarbeiter der Kiefer gebrochen worden, weil er einem Mann mitteilte, dass dieser nicht zu seiner Frau dürfe.
Kevlar-Westen liegen eng am Körper, nach der Schicht übernimmt sie das folgende Team. Warum gibt es dafür keine Dienstanordnung? Ein Notarzt: „Dann würde man ja zugeben, dass wir in Gefahr wären.“ Offiziell sei das Tragen sogar verboten. Der Mediziner und andere von der MOPO befragten Retter sagen aber: „Die Angst fährt immer mit. Der Schutz hilft, gerade mental.“
Angriffe auf Rettungskräfte werden in Hamburg nur in Teilen dokumentiert. Im Jahr 2007 wurde ein Meldebogen („Übergriffe auf Rettungskräfte“) bei der Feuerwehr eingeführt, der „fortlaufend weiterentwickelt und 2018 in die mobile Datenerfassung im Rettungsdienst übernommen wurde“, so ein Sprecher der Innenbehörde auf MOPO-Anfrage.
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Die Erfassung eines Übergriffs – verbal wie körperlich – könne seitdem direkt während eines Einsatzes erfolgen. Zudem arbeite man stets an einer „zukunftsorientierten Ausrichtung der IT-Infrastruktur mit einer Erweiterung der Anwendung“. Die Feuerwehr habe das Thema darüber hinaus in ihre Ausbildungsgänge integriert und würde auch das Bestandspersonal jährlich fortbilden. Der Vermerk während des Einsatzes auf dem Dienst-Tablet ist für Rettungskräfte die einzige Möglichkeit, Angriffe zu melden. Im Anschluss ist dies nicht mehr möglich.
So viele Angriffe auf Retter hat es in Hamburg gegeben
Im vergangenen Jahr wurden der Polizei offiziell 73 Angriffe auf Rettungskräfte gemeldet – der niedrigste Wert seit 2017 (damals 77). 2020 waren es 84, 2019 noch 98 und 2018 waren es 97 Taten. Die Innenbehörde: „Es wird immer Strafantrag gestellt.“ Die Dunkelziffer an Taten, die nicht gemeldet werden, dürfte aber um ein Vielfaches höher als die offiziellen Zahlen sein.
Nachfrage bei der Sozialbehörde, zuständig für Berufe im Gesundheitssektor wie Ärzte und Krankenhauspersonal. Auch diese Behörde erfasst grundsätzlich keine Angriffe auf Mediziner oder Helfer. „Die Gewaltausübung gegen medizinisches Personal, ebenso wie gegen Angehörige anderer helfender Berufe, ist jedoch ein Thema, das uns beschäftigt“, erklärt Sprecherin Stefanie Lambernd. Man sei mit den Berufskammern in „engem Austausch“, die Behörde begrüße es zudem, „dass von diesen Institutionen präventive Ansätze zur Gewaltvermeidung eingeführt worden sind“. So würden beispielsweise Kurse zur Konfliktlösung und Fortbildungen angeboten, die zum Ziel haben, „gefährliche Situation zu entschärfen und damit Gewaltausübung einzudämmen“.
Was die Innen- und Sozialbehörde sage, sei ja alles schön und gut, so der gemeinsame Tenor aus Kreisen der Hamburger Notärzte und Sanitäter. „Die Fortbildungen können dich aber gar nicht auf das vorbereiten, was da wirklich auf den Straßen passiert. Die Konzepte werden meist von Menschen entworfen, die nie im Rettungsdienst gearbeitet haben. Da fängt das Problem schon an“, sagt ein Notarzt. Die Retter wünschen sich mehr Rückenwind, mehr Schutz und „den Mut, mal auch zuzugeben, dass die Lage schlimmer geworden ist“.
Wegen vermehrter Angriffe: Ärztekammer fordert zentrales Meldesystem
Die niedersächsische Ärztekammer tut das jetzt. Sie fordert nun, dass der Anstieg der Angriffe mithilfe eines neuen Meldesystems dokumentiert werden müsse. Es gehe um Taten in Rettungsdienst, Praxis und Klinik. Flankierend zu einem zentralen Meldesystem müssten die Vorfälle strukturiert aufgearbeitet werden – „inklusive Strafverfolgung“, wie ein Sprecher der MOPO sagt. Außerdem müsste man psychologische Unterstützungs- und Hilfsangebote etablieren.
„Längst nicht jeder Fall wird auch zur Anzeige gebracht“, so der Sprecher weiter. „Jeder Betroffene beschreibt es ähnlich: Die Geduld und die Umgangsformen leiden seit Jahren.“ Der Appell der Ärztekammer: „Melden Sie diese Gewalt, auch alle, die Zeugen solcher Angriffe werden!“
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Wie das neue Meldesystem aussehen könnte, ist noch nicht ganz klar. Laut Ärztekammer müsste es aber „schnell, effizient und auch anonym“ nutzbar sein – eine technische Ergänzung, die leicht überall, in Rettungswagen und auch in Praxen, installiert werden könnte. Ähnlich wie bereits in Hamburg, aber umfangreicher. Das Meldesystem soll auch online genutzt werden können, zu jeder Zeit. Vor allem auch nach Schicht- bzw. Dienstende, falls Betroffene sich im Beisein ihrer Kollegen schämen sollten.
Die Hamburger Ärztekammer begrüßt das Vorhaben aus Niedersachsen und erwägt derzeit, ähnliche Forderungen zu erheben.