Hamburgs schwierigster Cold Case: „Mörder, sag uns endlich, wo ihre Leiche ist!“
Vor 23 Jahren verschwand die damals erst zehnjährige Hilal Ercan aus Lurup. Mehr als 8395 Tage sind seitdem vergangen. Es ist der wichtigste Cold Case Hamburgs. Ein Verdächtiger, der mehrmals gesteht und dann widerruft. Angehörige, die seit zwei Jahrzehnten nach einer Antwort suchen. Beamte, die mit akribischem Elan nicht aufgeben wollen, so viel und hart ermittelten wie in keinem zweiten Fall – und andere, die sich schwere Fehler leisteten. Eine Tragödie. Der Fall zeigt aber auch: Die Hoffnung der Familie – sie wird niemals abebben.
Das Verschwinden
Es ist Mittwochmittag, der 27. Januar 1999. Eine durchaus belebte Tageszeit im Nordwesten der Stadt. Hilal geht mit Münzgeld ins Einkaufszentrum „Elbgaupassagen“ in Lurup. Sie will sich für ihr gutes Zeugnis Süßigkeiten kaufen. Doch das Mädchen kehrt nicht zurück. Ihr Verschwinden fällt erstmals um 15.40 Uhr auf, eine dann durch die Angehörigen Hilals durchgeführte Suche bleibt erfolglos. Um 17.05 Uhr wird die Hamburger Polizei informiert.
Nur einige Tage später wird eine Verwandte der Familie angerufen. Ein Mann sagt, Hilal befinde sich gerade im Auto auf dem Weg nach Bremen. Der Anruf kann nicht zurückverfolgt werden. Der Anrufer bleibt bis heute unbekannt.
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Vor 23 Jahren verschwand die damals erst zehnjährige Hilal Ercan aus Lurup. Mehr als 8395 Tage sind seitdem vergangen. Es ist der wichtigste Cold Case Hamburgs. Ein Verdächtiger, der mehrmals gesteht und dann widerruft. Angehörige, die seit zwei Jahrzehnten nach einer Antwort suchen. Beamte, die mit akribischem Elan nicht aufgeben wollen, so viel und hart ermittelten wie in keinem zweiten Fall – und andere, die sich schwere Fehler leisteten. Eine Tragödie. Der Fall zeigt aber auch: Die Hoffnung der Familie – sie wird niemals abebben.
Das Verschwinden
Es ist Mittwochmittag, der 27. Januar 1999. Eine durchaus belebte Tageszeit im Nordwesten der Stadt. Hilal geht mit Münzgeld ins Einkaufszentrum „Elbgaupassagen“ in Lurup. Sie will sich für ihr gutes Zeugnis Süßigkeiten kaufen. Doch das Mädchen kehrt nicht zurück. Ihr Verschwinden fällt erstmals um 15.40 Uhr auf, eine dann durch die Angehörigen Hilals durchgeführte Suche bleibt erfolglos. Um 17.05 Uhr wird die Hamburger Polizei informiert.
Nur einige Tage später wird eine Verwandte der Familie angerufen. Ein Mann sagt, Hilal befinde sich gerade im Auto auf dem Weg nach Bremen. Der Anruf kann nicht zurückverfolgt werden. Der Anrufer bleibt bis heute unbekannt.
Am selben Tag, es ist der 3. Februar, bekommt die Familie einen weiteren Anruf: Der Mann am anderen Ende der Leitung möchte sich mit der Familie am U-Bahnhof Christuskirche treffen. Er hätte Informationen, behauptet er. Die Polizei kann in dem Fall den Anruf lokalisieren, er wurde von einer Telefonzelle an der Hohen Weide 13 abgegeben, unweit des Bahnhofs. Es kommt nicht zum Treffen. Vater Kamil Ercan will aber einen Mann gesehen haben, der sich verdächtig verhalten haben soll. Er verfolgt ihn eine Weile, verliert die Spur aber letztlich an der Bellealliancestraße.
Es vergehen zehn Tage. Hilal taucht nicht auf. Die Ermittlungen, die zu der Zeit noch am zuständigen Kommissariat geführt werden, verlaufen vorerst im Sande. Am Tatort wird nur ein Haarband gefunden; unklar, ob es Hilal gehört.
Die Verdächtigen
Der damalige Leiter des Landeskriminalamts entscheidet, eine besondere Aufbauorganisation (BAO) einzurichten. Ihr Name: „Morgenland“. Die Ermittler konzentrieren sich bei ihrer Arbeit schnell auf die Familie, lassen deren Telefone anzapfen, hören bei Gesprächen mit und observieren diverse Angehörige.
Sie gehen davon aus, dass die Familie selbst für das Verschwinden Hilals verantwortlich ist. Die Annahme beruht auf widersprüchlichen Angaben der Großmutter Reyhan D.* zu einem von den Ermittlern erfragten Tagesablauf, sodass sie fortan als Verdächtige zählt. Die Beamten nehmen an, dass D. ihre Enkelin entführt und in die Türkei gebracht hat. Der Leiter der Ermittler-Gruppe schimpft damals sogar öffentlich über die „Lügen der Großmutter“.
Türkische Polizisten durchsuchen Wohnungen der Verwandten, finden aber nichts, weder Hilal noch Beweise, die sie der Großmutter anlasten könnten. Nachdem Reyhan D. monatelang als Verdächtige galt, wird die These letztlich fallengelassen, weil geklärt wird, dass D. nur fälschliche Angaben gemacht hat, um eine Beziehung zu ihrem Ex-Mann zu verheimlichen. Auch auf Ayla und Kamil Ercan, Hilals Mutter und Vater, wird in dieser Zeit und im Zuge der anfänglichen Ermittlungen großer Druck ausgeübt. An den psychologischen Folgen leidet die Familie noch heute.
Im Juli 1999 wird ein Ermittlungsverfahren gegen Bilge S. eingeleitet. Sie ist die Cousine von Hilals Vater. Drei Nichten der Mutter wollen während einer S-Bahnfahrt ein verdächtiges Telefongespräch von S. gehört haben. Dabei soll den Frauen der Verdacht gekommen sein, S. könnte Hilal gegen ihren Willen festhalten. S. war bereits zuvor wegen schwerem Menschenhandel zum Nachteil einer 16 Jahre alten Polin verurteilt worden. Ermittler können aber keinen Zusammenhang herleiten, auch Beweise lassen sich nicht finden. Das Verfahren wird Ende Juli eingestellt.
Etwa zeitgleich lassen die Ermittler alle Thesen, die sich gegen die Familie gerichtet haben, fallen. Der Fokus liegt bereits auf einen neuen Verdächtigen: Werner P. Er ist am 12. Mai desselben Jahres festgenommen worden. Er hatte wenige Tage zuvor die erst elf Jahre alte Dania V. in der Nähe eines Einkaufszentrums in Lohbrügge zunächst in sein Auto – ein Ford Galaxy – gelockt, sie später bei Schwarzenbek sexuell missbraucht und dann in Havekost gefesselt und mit verbundenen Augen abgesetzt. Geständig wird er dafür zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
Ermittler und eine einflussreiche Polizei-Psychologin gehen von einem Anfangsverdacht gegen P. aus, weil dessen Vorgehensweise Parallelen zum Fall Hilal zeigen würde. Dazu hat P. für den 27. Januar kein Alibi. Doch er bestreitet den gegen ihn erhobenen Vorwurf, er wäre für das Verschwinden von Hilal verantwortlich. Zeugen vom Tatort in Lurup erkennen P. nicht wieder, geben an, der Mann, den sie sahen, wäre kräftiger, hätte rötliche Haare und einen „Watschelgang“ gehabt. Auch in P.s Ford Galaxy werden keine Spuren gefunden, die zum Fall Hilal Ercan führen.
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Es vergehen mehrere Jahre ohne neue Ermittlungserkenntnisse bzw. -ansätze. Im März 2002 gehen zwei Briefe bei der Polizei ein. Darin schildert der anonyme Absender Infos zu Hilals Verschwinden. Er und drei Männer – alle werden anhand der im Brief genannten Namen als Mitglieder der Neonazi-Szene identifiziert – hätten Hilal entführt. Das LKA findet heraus, dass die Beschuldigten, gegen die zwischenzeitlich ein Ermittlungsverfahren eröffnet wurde, zur Tatzeit in Haft in Neumünster waren. Das Verfahren wird eingestellt. Der Absender ist bis heute unbekannt.
2004 wird innerhalb des Landeskriminalamts ein neues System zur „täterorientierten Prävention“ ausgearbeitet. Die Ermittler stoßen dabei auf Tom A. Ein Mann, der nachweislich Kinder missbraucht, eines sogar fast zu Tode gewürgt hat: Die Rechtsmedizin war damals zum Ergebnis kommen, dass es nicht mehr in seinem Ermessen war, ob Janina – sein letztes bekanntes und erst neun Jahre altes Opfer – überlebte oder nicht. Doch sie überlebte.
In der Wohnung A.s waren in der Folge Videos gefunden worden, die einige seiner Taten zeigen. Er wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt und in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Seitdem werden jährlich psychologische Gutachten von ihm erstellt, die immer extreme Tötungs- und Leichenbeseitigungsfantasien aufweisen.
Zum Zeitpunkt des Verschwindens von Hilal wohnte A. in derselben Straße wie die Familie von Hilal Ercan. Alle Kinder, die er sexuell missbraucht hatte, sprach er in unmittelbarer Nähe zum damaligen Wohnort der Ercans an.
Das falsche Alibi
Nur wenige Tage nach dem Verschwinden im Jahr 1999 hatten die Zeugen Johannes M. und Otto H. bei der Polizei ausgesagt, sie hätten zur Tatzeit in Lurup einen stämmigen „Wikinger-Typen“ mit rötlichen Haaren beobachtet, der Hilal in eine dunkle Limousine zerrte. M. übergibt den Ermittlern sogar ein Foto, das einen Arbeitskollegen zeigt, der dem Mann, den er mit Hilal gesehen haben will, verblüffend ähnlich sehen soll. Es sei sicher nicht der Kollege selbst gewesen, sie würden sich nur sehr ähneln, sagte er aus. Die BAO entscheidet, dem Foto keine weitere Beachtung zu schenken. Auch ein Phantombild, das zusammen mit dem Zeugen M. erstellt wird, mit dem dieser aber nicht ganz zufrieden ist, wird nicht veröffentlicht. Es folgen keine weiteren Termine, um an jenem Bild zu arbeiten. Die These, ein „Wikinger“-Typ hätte Hilal entführt, hatte damals auch nicht zu der Familien-Hypothese der Ermittler gepasst.
Erst Jahre später kommt heraus, dass Tom A. – stämmig-korpulent, rötliches Haar – seine dunkle Limousine, einen 3er BMW, wenige Tage nach dem Verschwinden von Hilal veräußerte. Er hatte das Auto erst im Oktober 1998 für 1400 Mark gekauft, es dann für auffällig niedrige 200 Mark verkauft. Der BMW wird – nach einem erneuten Verkauf – wohl nach Osteuropa exportiert. Kurz vor dem Verkauf hatte sich Tom A. noch ein neues Radio einbauen lassen.
Bei der Überprüfung von Tom A. im Jahre 2004 stoßen die Ermittler auf weitere Ungereimtheiten: Zum Beispiel, dass A. sogar damals kurzzeitig als Verdächtiger eingestuft war – aber nur sehr kurz: Sein Alibi für den 27. Januar 1999 wurde als „wasserdicht“ bewertet, A. hätte gearbeitet. So sagt es seine Schwester im Telefonat mit einer Kommissarin aus, auch A.s Arbeitgeber, sein Schwager, bestätigt dies. Zu dem Zeitpunkt hatte es keine ordentliche Vernehmung gegeben, nicht einmal A. selbst wurde zu dem Verschwinden Hilas befragt. Zeugen erkennen A. bei einer Gegenüberstellung mit anderen Männern nicht als Hilals Kidnapper wieder.
Die Ermittler überprüfen Ende 2004 das „wasserdichte Alibi“ erneut, sehen sich alte Stundenzettel an und können schnell das Alibi als solches widerlegen. Später gibt A. selbst zu, an dem Tag nicht gearbeitet zu haben. Auch das Foto, das seinerzeit von der BAO ignoriert wurde, wird wieder Thema, gibt es doch Grund zur Annahme, A. könnte – wegen der Ähnlichkeit zur abgebildeten Person – Verdächtiger sein. Erst heißt es aber, das Foto gäbe es nicht mehr, dann taucht es doch auf: in der Schublade einer Kommissarin, die es offenbar nicht zu den Akten gelegt hatte.
Anfang 2005 besuchen Ermittler Tom A. zu einer der ersten Vernehmungen im Haus 18 der Psychiatrie Ochsenzoll. Er ist damit einverstanden, zwecks Überprüfung einiger Spuren und Zeugenaussagen, eine Perücke aufzusetzen. Zu dem Zeitpunkt ist sein Kopf kahl geschoren. Zeugen wiesen dem möglichen Entführer Hilals aber längere, rötliche Haare aus. Etwas, was zu Tom A. passen würde, trüge er seine Haare wieder länger, so die Bewertung der Ermittler.
In dem Gespräch gibt er zu, Hilal gekannt, sie aber nicht entführt zu haben. Es folgen weitere Vernehmungen, bei denen er stets eine Tatbeteiligung abstreitet. Er informiert sich in den Gesprächen mit den Ermittlern über Täter, die ihre Tat erst nie zugaben, dann Jahre später doch überführt wurden. Er erzählt von Phantasien, dabei geht es ums Schänden und Vergraben von Kinderleichen. Er fragt sich, wie es sich anfühlt, damit davonzukommen.
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Zeitgleich starten die Ermittler einen Zeugen-Vernehmungs-Marathon, befragen zahlreiche Freunde, Weggefährten und Familienangehörige von Tom A., der mittlerweile Hauptverdächtiger ist. So werden auch die zwei Jugendlichen Mathias S. und Roman F. vernommen. Ersterer hatte bereits zuvor wichtige Hinweise zu den Taten des Mannes gegeben. Er sagt, er habe in A.s Wohnung ein Video gesehen, das den Missbrauch eines kleinen Mädchens zeigt. Sie soll eine auffällige Unterhose getragen haben. Keines der bekannten Opfer von A. trug oder besaß eine solche Unterhose. Aber Hilal. Bis heute ist unbekannt, wer das Mädchen auf dem Band ist.
Roman F. berichtet von einem Video, auf dem ein Mädchen zu sehen ist, das mit „auffällig roten Flecken“ auf einem Waldboden liegt. Es könnten Totenflecken sein, die durch die Ansammlung von Blut in abhängigen Körperpartien entstehen. Sie gelten als sicheres Todeszeichen. Das Mädchen hätte dunkle Haare gehabt, sie selbst sei nackt, ihr Gesicht nicht zu erkennen gewesen. Der Zeuge glaubt, dass das Video in der Rissener Kiesgrube gefilmt wurde, dort sei er mit A. und anderen Jungen oft zum Abhängen gewesen. A. hatte fast ausschließlich Kinder als Freunde.
Dieselbe Aussage hat F. bereits 2000 abgegeben, damals verfolgte die Polizei diese Spur nicht. Auch die Aussagen, wonach ein Mann einen Tag nach dem Verschwinden von Hilal im Bereich des Tatorts eine blaue und offenbar sehr schwere Plastiktüte aus seinem dunklen Wagen in einen Container hievt, sind von Ermittlern damals nicht verfolgt worden. Die Besatzung eines Streifenwagens kontrollierte zwar die Örtlichkeit und stellte kein Auto fest – in besagten Müllcontainern schauten die Beamten aber auch nicht. Der Müll aus solchen Containern wird sofort verbrannt.
Das doppelte Geständnis
Am 27. April 2005 soll Tom A. laut Aussagen mehrerer Psychiatrie-Mitarbeiter „total nervös und rauchend den Flur hoch und runter gerannt“ sein. Dann spricht er den Pfleger Günter H. an. Ihm gegenüber gesteht er, Hilal getötet zu haben. Dasselbe sagt er seinem behandelnden Arzt. Ermittlern erzählt er, dass er am Tattag rumgefahren wäre und dann Hilal gesehen hätte. Er habe sie nicht ins Auto gezerrt, sie sei eingestiegen, weil er ihr 50 Mark anbot – etwas, was er bei seinen anderen Opfern öfter getan hatte. Erst wäre er mit ihr rumgefahren, ehe er sie im Volkspark dann missbraucht hätte. Als sie sich wehrte, würgte er sie, sagt er, bis sie nicht mehr atmete. Dann vergrub er die Leiche.
Schnell finden Ermittler heraus, dass Tom A. nicht bei allen Teilen seines Geständnisses die Wahrheit gesagt hat. Als bei der Suche im Volkspark einen Tag später ein Reporter auftaucht und Fotos macht, widerruft A. noch vor Ort sein Geständnis. Im Präsidium gibt er die Tat wieder zu, spricht aber diesmal von anderen Orten als Versteck. Auch diese Aussagen nimmt er zurück. Später sagt er, er hätte sich mit dem Geständnis an der Polizei rächen wollen. Außerdem habe er auf eine Verlegung gehofft.
Einige Monate später erzählt Sandra E. – eine der engeren Freundinnen Hilals –, sie und Hilal seien einige Wochen vor ihrem Verschwinden am Spielplatz an der Spreestraße häufiger von einem Mann angesprochen und beobachtet worden. Es sei der Mann, den sie öfters in der Zeitung sah und daher wiedererkannte – Tom A. Dasselbe hatte sie im Jahr 1999 bereits der Polizei ausgesagt, ohne auf A. zeigen zu können, weil der damals nicht als Verdächtiger galt.
Auch der Zeuge Johannes M. wird wieder vorgeladen. Die Ermittler haben das von ihm abgegebene Foto bearbeitet, vor allem die langen Haare wurden angepasst. Das Foto wird erst 2011 veröffentlicht. Warum – das ist unbekannt. Es bleibt auch unklar, wieso in der folgenden Zeit die Ermittler Zeugen Schwarz-Weiß-Fotos des Verdächtigen zeigen, die eigentlich im Original in Farbe waren. Stichwort rötliche Haare. Auch ist widersprüchlich, warum professionelle Hochzeitsfotos des Verdächtigen zu einem Porträt geschnitten werden, obwohl vermutlich die Ganzkörperansicht auch zu potenziell aufschlussreichen Erkenntnissen – unter anderem zur „Watschelhaltung“ – hätten führen können.
So erkennt Johannes M. auf den ihn gezeigten Fotos den von ihm gesehenen Mann nicht zu 100 Prozent wieder, „wenn, dann käme aber der da infrage“. M. deutet auf ein Porträt von Tom A.
Im Januar 2006 bittet Tom A. Ermittler um ein sofortiges Gespräch. Er wolle gestehen, behauptet er. Jetzt spricht er von einem neuen Missbrauchsort, einem neuen Versteck der Leiche. Er verstrickt sich in Widersprüchen, sagt dann aber auch wieder Dinge aus, die Täterwissen vermuten lassen. Er führt Ermittler in die Rissener Kiesgrube und sagt, er hätte Hilal auf einem Parkplatz erwürgt und dann vergraben. Einen Tag erklärt er, es sei ein Unfall, einen anderen, dass es geplant gewesen sei. Er räumt während der Vernehmungen ein, bei Teilen seines Geständnisses gelogen zu haben. Suchmaßnahmen – auch mithilfe eines Georadars – bleiben letztlich erfolglos.
Kurz darauf nimmt Tom A. sein Geständnis zurück, nachdem er wiederholt widersprüchliche Aussagen gemacht hat. Im Juli wird eine neue Akte im Fall Hilal erstellt, die Ermittlungen richten sich gegen Unbekannt. Im Eingangsbericht werden alle Verdächtigen, gegen die bisher ermittelt wurde, aufgezählt. Tom A. wird nicht aufgelistet, warum, bleibt unklar.
Im Oktober wird das Ermittlungsverfahren gegen Tom A. offiziell eingestellt. In einem abschließenden Gutachten heißt es, der Beschuldigte könnte sich aufgrund seiner Phantasien in eine Art Täterrolle hineingesteigert haben. Tom A. wird eine kombinierte Persönlichkeitsstörung bei unterdurchschnittlicher Intelligenz attestiert. Die Ärzte gehen von einer Pädophilie mit „erheblichen sadistischen Anteilen und erheblichen Ich-strukturellen-Defiziten aus“.
Das Leiden
Gegenüber Patienten und Besuchern soll Tom A. in den Jahren danach weiter angeben, Hilal getötet zu haben. Die Spuren bei den auf Suchen im Volkspark und Rissen gefundenen Gegenständen ergeben keine DNA-Treffer. Weitere Aktionen finden statt, ohne, dass es die Öffentlichkeit erfährt. Alle erfolglos. Die Veröffentlichung des Phantombilds des Zeugen Johannes M. im Jahr 2011 führt zu acht neuen Hinweisen, aus denen sich für die Ermittler nichts ergibt – 2014 meldet sich eine Zeugin und beschreibt einen „unheimlichen Mann“ mit rötlichen Haaren, der sich am Tattag im Januar 1999 am Einkaufszentrum aufgehalten haben soll. Fotos von Tom A. führen nicht zur Identifizierung.
2016 übernimmt die damals neue Ermittlungsgruppe „Cold Cases“ um Leiter Steven Baack den Fall Hilal. Baack war bereits als junger Kripo-Mann maßgeblich an Ermittlungen in den Jahren 2004 und 2005 beteiligt. Er bringt 2018 eine dauerhafte Fahndungserinnerung am Einkaufszentrum in Lurup an. Hinweise führen nicht zu neuen Ansätzen.
Tom A. soll auf die Berichterstattung sehr gestresst reagiert haben. Er behauptet demnach, damals nach Opfern gesucht zu haben – und bei Hilal sei die Situation einfach außer Kontrolle geraten. Später korrigiert er sich, will sich nur versprochen und nicht Hilal gemeint haben.
Es folgen zwei weitere Suchaktionen, eine 2018 im Volkspark, die andere 2020 in Rissen. Ausgangslage für die erste Suche sind Hinweise eines neuen Zeugen, der von einem Freund berichtet, der kurz nach Hilals Verschwinden eine frische Grabstelle in der Nähe eines Fledermausbunkers gesehen haben will. Dieser sei Forscher in dem Bereich gewesen und hätte seine Beobachtungen auch damals der Polizei gemeldet. Ermittlungen gab es daraufhin keine. Die Suchaktionen – bei beiden kommen Bodensonargeräten und diverse Spürhunde zum Einsatz – bleiben erfolglos.
In manchen Polizeikreisen gilt der Fall heute als „ausermittelt“, die Spur Tom A. sei kalt. Ihm hätte die Anwesenheit am Tatort zur Tatzeit nie nachgewiesen werden können, auch nicht, nachdem man den Fall noch mal neu aufgerollt hatte. Andere vermuten eine Art Vertuschung, um gemachte Fehler nicht vollends eingestehen zu wollen. Vor allem das zunächst verschwundene Foto, das erst Jahre später in der Schublade auftauchte, werfe Fragen auf. Polizei und Staatsanwaltschaft äußern sich wegen des weiter laufenden Verfahrens gegenüber der MOPO weder zu der Sache noch zu besagten Unklarheiten, die im Ermittlungsverlauf deutlich wurden. Auch Tom A. lehnte ein Gespräch ab.
Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft betont aber, dass „den Ermittlern der Fall Hilal wirklich am Herzen liegt“. Er habe noch immer eine hohe Priorität, jeder Hinweis würde überprüft. Knapp 700 sind es in Gänze. „Es gibt wohl kaum einen zweiten Fall, in dem mit einem solchen Aufwand ermittelt worden ist und noch immer ermittelt wird.“
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Anwalt Philipp Hammerich, der sich im Schulterschluss mit Familienbekannten für die Interessen Hilals seit Anfang 2021 einsetzt, sagt zur MOPO: „Sowohl der Druck, welcher damals auf die Familie ausgeübt wurde, als auch der Name der Einheit ‚Morgenland‘ sind für mich mehr als befremdlich. Hätte man von Anfang an mit Nachdruck stärker andere Spuren verfolgt, hätte man sehr viel früher auf einen späteren Verdächtigen kommen können, der in der Folge nach Hilals Verschwinden schwere Straftaten an Kindern begangen hat, für die er dann auch verurteilt wurde.“
Für die Familie bleibt eines klar: Sie werden weiter für die Aufklärung im Falle ihrer Hilal kämpfen, egal wie groß das Leiden ist und wie tief der Schmerz mittlerweile sitzt. Die Hoffnung bleibt, bald endlich doch Gewissheit über den Verbleib ihrer Hilal zu haben. Bruder Abbas Ercan wird deutlicher: „Mörder, sag uns endlich, wo ihre Leiche ist!“
*Die Namen der Verdächtigen, Opfer und Zeugen wurden verändert.
Hinweise zum Fall Hilal Ercan an die Tel. 428 65 6789 oder hinweise-hilalercan@polizei.hamburg.de