Kein Halten mehr: St. Pauli-Fans stürmen in der 89. Minute den Platz.

Kein Halten mehr: St. Pauli-Fans stürmen in der 89. Minute den Platz. Foto: WITTERS

Vor 30 Jahren: Wie die eigenen Fans fast St. Paulis Aufstieg verhinderten

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Vor dreißig Jahren konnte der FC St. Pauli in die Bundesliga aufsteigen, stolperte aber beinahe über seine eigenen Fans. Ein verfrühter Platzsturm sorgte für bange zwanzig Minuten beim Kiezklub, ehe die Party richtig losgehen konnte.

18. Juni 1995, 16.42 Uhr, Millerntor: Schiedsrichter Bodo Brandt-Chollé bläst in seine Pfeife und es gibt kein Halten mehr. Die Fans stürmen auf den Rasen, um den Aufstieg in die Bundesliga zu feiern. Doch bei der großen Party gibt es ein gar nicht so kleines Problem.

St. Pauli führte gegen den FC Homburg zwar mit 5:0, was locker reichen würde, um die Konkurrenz aus Düsseldorf und Wolfsburg auf Distanz zu halten. St. Pauli hatte gegen Homburg aber noch nicht gewonnen. Denn kurz zuvor war der zweimalige Torschütze Jens Scharping im Homburger Strafraum regelwidrig zu Fall gebracht worden. Ein klarer Elfmeter – auf den Brandt-Chollé auch mutmaßlich entschieden hatte. Das Spiel war also noch gar nicht zu Ende – zumal die zweite Hälfte zum Zeitpunkt seines Pfiffs erst gut 43 und eine halbe Minute angedauert hat.

Nach dem 5:0 klettern Fans über die Zäune

Bereits nach Scharpings Tor zum 5:0 in der 84. Minute waren etliche Fans über die Zäune geklettert und harrten am Spielfeldrand aus, um als erste ihre Lieblinge feiern und umarmen zu können. „Nie mehr Zweite Liga, nie mehr, nie mehr“, tönte es von den Tribünen. Nach Brandt-Chollés Pfiff und dem Platzsturm herrschte Chaos. „Was soll denn das hier, über den Platz zu laufen?“, fragte Stadionsprecher Rainer Wulff in sein Mikrofon und flehte geradezu: „Bewahrt Ruhe und verlasst sofort den Platz!“

Wie sollte auf einem Feld voller Fans ein Elfmeter ausgeführt werden? Wenn das Spiel noch gar nicht beendet war und St. Pauli Schuld daran, dass es nicht beendet werden könnte – dann würde eine mögliche Umwertung dazu führen, dass der Aufstieg flöten geht. Vom Internet hatten 1995 nur Technikfreaks etwas gehört, Transistor-Radios waren damals die schnellste Informationsquelle. Von Mund zu Mund sprach sich herum, dass die verfrühte Feier in einen Nichtaufstieg münden könnte. 

„Ihr seid scheiße wie der HSV“

Minuten des Zweifelns, Minuten des Bangens. Der Sound von den Rängen veränderte sich. „Ihr seid scheiße wie der HSV“, riefen Fans, die auf ihren Plätzen geblieben waren, denjenigen zu, die mit ihrem Enthusiasmus möglicherweise den Aufstieg gefährdeten. Die Ordner versuchten derweil, für Ordnung zu sorgen – die Vereinsfunktionäre bemühten sich, den Schiedsrichter zu sprechen.

Minuten des Bangens: Zurück an den Seitenlinien warten St. Paulis Fans darauf, wie es weitergeht. WITTERS
Minuten des Bangens: Zurück an den Seitenlinien warten St. Paulis Fans darauf, wie es weitergeht.
Minuten des Bangens: Zurück an den Seitenlinien warten St. Paulis Fans darauf, wie es weitergeht.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Fans das Spielfeld tatsächlich verlassen und sich zu Hunderten am Rand jenseits der Kreidelinien versammelt hatten. Die schon vor dem Anpfiff abgestiegenen Homburger hatten sich aber in ihre Kabine verkrümelt und blieben dort auch. Allzu viel Motivation, sich der braun-weißen Party-Meute zu stellen, besaßen sie offenbar nicht. (Die Homburger revanchierten sich übrigens ganze 68 Tage später, indem sie St. Pauli mit 2:1 aus dem DFB-Pokal warfen. Nach 120 Minuten, die am Millerntor fehlende Spielzeit wurde im Saarland also quasi nachgeholt …)

St. Pauli-Vize Hinzpeter spricht die erlösenden Worte

Weitere fünf Minuten vergingen auf St. Pauli, ehe Vizepräsident Christian Hinzpeter zum Mikrofon griff und auf dem Rasen verkündete, „dass der Schiedsrichter mir in der Kabine gesagt hat: Das Spiel ist offiziell beendet!“ Ein Satz, der – vielleicht historisch nicht ganz so bedeutenden – Jubel aufbranden ließ wie Hans-Dietrich Genschers Worte auf dem Balkon der Prager Botschaft im September 1989: „Um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“

Heute Ihr Aufstieg … erneut trieben die Massen auf den Rasen. Um 17.02 Uhr, zwanzig ewige Minuten nach dem „Elfmeter-Schlusspfiff“ des Schiedsrichters, war St. Pauli tatsächlich in der Ersten Liga.

Stephan Hanke, Bernd Hollerbach, Leonardo Manzi, Klaus Thomforde und Kay Stisi feiern den Aufstieg. WITTERS
Stephan Hanke, Bernd Hollerbach, Leonardo Manzi, Klaus Thomforde und Kay Stisi feiern den Aufstieg.
Stephan Hanke, Bernd Hollerbach, Leonardo Manzi, Klaus Thomforde und Kay Stisi feiern den Aufstieg.

Zum Glück St. Paulis war für Schiedsrichter Brandt-Chollé sein 36. Zweitliga-Spiel auch sein Abschiedsspiel vom Profifußball. Sanktionen vom DFB konnten dem damals 38-Jährigen egal sein. Als die St. Pauli-Fans nun ausgelassen feierten, trat der Berliner vor die Kameras und verkündete mit leichtem Schmunzeln und so viel Coolness, wie ein Oberlippenbart zulässt: „Nach meinem Schlusspfiff war das Spiel zu Ende.“ Er verteilte sogar noch ein Lob: „Die Ordner haben sehr gute Arbeit geleistet.“

St. Paulis Lieblings-Berliner: Bodo Brandt-Chollé im Jahr 2012 IMAGO/Christian Thiel
St. Paulis Lieblings-Berliner: Bodo Brandt-Chollé im Jahr 2012
St. Paulis Lieblings-Berliner: Bodo Brandt-Chollé im Jahr 2012

Brandt-Chollé, heute 68, engagierte sich danach in der Schiedsrichter-Ausbildung. Seine Ehrenmitgliedschaft im Berliner Fußball-Verband hat er sich aus braun-weißer Sicht bereits 1995 verdient.

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Dass in den dreißig Jahren danach Aufstiegs- oder Rettungsfeiern bei St. Pauli in der Regel geordneter abliefen, liegt wohl ein wenig an den Geschehnissen des 18. Juni 1995 und die Erinnerung daran. Aber sicher auch daran, wie sich der Fußball verändert hat. Nicht auszudenken, was damals mit Videobeweis passiert wäre. Der VAR hätte dem Schiedsrichter schließlich dringlich empfehlen müssen, das Spiel mit einem Elfmeter für St. Pauli fortzusetzen Und den konnte an diesem Sonntagnachmittag wirklich kein Mensch vor Ort gebrauchen.

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