Carlotta Gysbers mit ihrer Mutter Rebecca, dessen Lebensgefährten Jens und ihrer Schwester Matilda.

Carlotta Gysbers mit ihrer Mutter Rebecca, dessen Lebensgefährten Jens und ihrer Schwester Matilda. Foto: Murat Yelkenli

Carlotta kämpfte stundenlang um ihr Leben – doch der Rettungshubschrauber kam nicht

Mit ihren großen, grünbraunen Augen guckt Carlotta einen genau an. Sie verzieht keine Miene, blinzelt nicht. Ihre Mundwinkel zucken einmal ganz kurz, hin zu einem vorsichtigen Anfang eines Lächelns. Dann schließt sie die Augen und öffnet sie wieder. „Sie hat gerade ‚Hallo‘ gesagt“, erklärt Rebecca Gysbers, Carlottas Mutter. Vor knapp zwei Jahren riss eine Hirnblutung die damals 14-Jährige aus ihrem geliebten Teenager-Leben. Die Augen sind das Einzige, was Carlotta kontrolliert bewegen kann. Die MOPO zu Besuch bei Familie Gysbers auf Sylt, wo seit zwei Jahren der Ausnahmezustand den Alltag verdrängt hat – weil es auf der Luxusinsel keinen Rettungshubschrauber gab, als Carlotta in Not war.

Es war der 31. Mai 2023. Carlotta, damals 14 Jahre alt, schwamm im Sportbecken der „Sylter Welle“, dem Inselhallenbad in Westerland. Der Teenager wollte das Jugend-Rettungsschwimmabzeichen machen. Sie liebte das Surfen auf den Wellen der oft rauen Nordsee. Und sie liebte das Schwimmen. Gegen 20 Uhr merken Freundinnen, dass mit Carlotta etwas nicht stimmt. Sie geht unter. Das 1,81 Meter große Mädchen wird aus dem Wasser gezogen. Sie kann nicht mehr sprechen, sich kaum noch bewegen. Der Rettungswagen bringt Carlotta in die Nordseeklinik auf Sylt. Es ist das einzige Krankenhaus auf der Insel – ohne Stroke-Unit, eine auf Schlaganfälle spezialisierte Abteilung.

Lebensgefahr – und kein Rettungshubschrauber steht zur Verfügung

Schnell ist klar: Carlottas Zustand ist lebensbedrohlich. Sie muss sofort intensivmedizinisch versorgt werden. Doch der Rettungshubschrauber „Christoph 42“ steht gerade nicht zur Verfügung. Das um sein Leben kämpfende Mädchen wird Stunden später mit dem Seenotrettungskreuzer aufs Festland und dann ins Krankenhaus nach Flensburg gebracht. Weit nach Mitternacht wird Carlotta operiert – viel zu spät. Denn jede Minute, die bei einer Hirnblutung unbehandelt vergeht, führt zum Absterben von Millionen Nervenzellen. Drei Wochen liegt sie im künstlichen Koma. „Ob Carlotta überleben wird, war lange absolut unklar“, erzählt Rebecca leise.


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Ihre tiefblauen Augen strahlen, doch ihr Blick ist müde. Sie holt tief Luft und beginnt dann zu erzählen, was seither über die Familie hereingebrochen ist. Rebecca spricht klar, mal leiser, mal energischer. Als sie dann das erste Jahr seit dem Schlaganfall ihrer Tochter zusammengefasst hat, stockt sie und schüttelt den Kopf. „Das klingt alles so unglaublich und so schrecklich. Ich kann gar nicht glauben, dass all das wirklich uns passiert ist.“

Die jüngere Schwester hilft mit, wo sie nur kann

Matilda, die jüngere Tochter, kommt auf die Terrasse. „Carlotta krampft, es geht ihr nicht gut, sie braucht dich dringend“, sagt sie fast entschuldigend. Matilda ist 13, sieht etwas älter aus. Vielleicht, weil sie in den vergangenen zwei Jahren aufhören musste, Kind zu sein. Sie hilft, versorgt, unterstützt, leidet und hofft mit. „Sie ist ganz, ganz wunderbar“, sagt Rebecca, „und sie kommt so oft viel zu kurz.“

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Die 44-Jährige presst die Lippen zusammen, geht zu ihrer großen Tochter, die in einem Multifunktionsrollstuhl sitzt, Fuß und Kopf sind verdreht, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. „Carlotta bekommt alles mit, sie ist gefangen in ihrem Körper“, sagt Rebecca und streicht ihrer Tochter über den Kopf.

Sylter und Sylterinnen engagieren sich für Carlotta

Zehn Monate vergingen nach dem Unglück, bis Carlotta wieder nach Hause konnte. Das Mädchen war nach der OP in der Reha, dann wieder im Krankenhaus, dann wieder in der Reha. Auf Sylt gründete sich währenddessen aus dem Kreis von Carlottas Fußballmannschaft das Team #wirfuercarlotta. „Die Hilfsbereitschaft der Ur-Sylter war und ist wahnsinnig groß. Das ist unser Halt“, erklärt Rebecca. Freunde, Nachbarn, die Schule, auch Fremde – ganz viele Menschen wollen der Familie helfen. „Anders könnten wir das alles gar nicht schaffen, wir sind unendlich dankbar“, erzählt Rebecca.

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Wir, damit meint sie ihre Tochter Matilda, ihren Lebensgefährten Jens, dessen Sohn Terje, zwei Omas und Mops Enno. Die Patchworkfamilie hält zusammen und kämpft unermüdlich. Manchmal gegen Ablehnungsbescheide der Krankenkasse, regelmäßig gegen den Fachkräftemangel auf der Insel und eigentlich immer gegen die absolute Erschöpfung. Rebecca: „Carlotta braucht Physio-, Ergo- und Logopädie und täglich zwei Pflegekräfte. Ich manage inzwischen ein Team. Ich helfe mit, wann immer ich zu Hause bin, mein Partner ebenso.“ Jeden Tag, jede Nacht – wenn ihre Tochter krampft, Schmerzen hat und weint.

„Hier auf Sylt ist unser Zuhause“

Sylt sei nicht ausgestattet für ein Leben mit einem behinderten und pflegebedürftigen Kind, ist Rebecca gesagt worden. Dabei ist gerade Sylt in einigen Bereichen außergewöhnlich gut ausgestattet und bekannt dafür, dass jeden Sommer im Luxussegment die unmöglichsten Dinge möglich gemacht werden. „Hier ist unser Zuhause. Hier sind alle, die uns lieben und unterstützen. Carlotta ist ein Kind dieser Insel und dort sollten sie und andere pflegebedürftige Menschen auch leben dürfen“, sagt Rebecca und klingt verzweifelt.

Lebensgefährte Jens kommt dazu, fragt, ob der Duschstuhl verladen ist. Die nächste Reha steht an. Vier Wochen wird Carlotta im Spezial-Therapiezentrum ProPrios in Bratislava verbringen. Rund 20.000 Euro kostet die Therapie, die die Familie nur durch Spenden aufbringen kann. Auf Sylt fehlen Facheinrichtungen und Therapeuten, Hilfsmittel werden immer wieder abgelehnt. Rebecca: „Aber was wir am dringendsten brauchen, ist eine Fachklinik mit festen Ansprechpartnern. Und wir brauchen jemand, der wie wir an Carlotta glaubt.“

Unter #wirfuercarlotta auf Instagram zeigen Schulfreunde von Carlotta, was alles mit und für Carlotta auf Sylt unternommen wird. Aktuell braucht die 16-Jährige ein Wasserbecken zur Verminderung von Spastiken und Schmerzen. Spendenkonto: Norddörfer Kirchengemeinde IBAN DE79 2179 1805 0000 2209 30 BIC GENODEF1SYL Stichwort: Carlotta. Über Bewerbungen von Pflegekräften/Quereinsteigern sowie Kontakt zu Kliniken und Therapeuten freut sich Familie Gysbers sehr und ist unter rg-sylt@web.de zu erreichen.

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