Streit um Moorburg: Wie Hamburgs Grüne von der Debatte zerrissen werden
Soll die Bundesrepublik, sollen Norddeutschland und Hamburg aufgrund der kriegsbedingten Gasknappheit noch einmal auf radioaktives Atom und klimakillende Kohle setzen und bereits eingemottete Kraftwerke wie Moorburg und Brokdorf eine Ehrenrunde drehen lassen? Die Debatte zerreißt die grüne Seele, meint MOPO-Kolumnist Marco Carini.
Soll die Bundesrepublik, sollen Norddeutschland und Hamburg aufgrund der kriegsbedingten Gasknappheit noch einmal auf radioaktives Atom und klimakillende Kohle setzen und bereits eingemottete Kraftwerke wie Moorburg und Brokdorf eine Ehrenrunde drehen lassen? Die Debatte zerreißt die grüne Seele, meint MOPO-Kolumnist Marco Carini.
Befeuert wurde diese Diskussion in der laufenden Woche vom auch für AKW-Sicherheit zuständigen TÜV, dessen Geschäftsführer Joachim Bühler befand, selbst die drei vergangenen Dezember stillgelegten Atommeiler, darunter auch Brokdorf, befänden sich „in einem sicherheitstechnischen Zustand, der es möglich machen würde, sie wieder ans Netz zu nehmen.“ Das sei allein „eine Frage des politischen Willens“.
CDU Hamburg will Moorburg und Brokdorf reaktivieren
Seitdem tobt die Debatte um ein Brokdorf-Comeback. Hamburgs CDU-Fraktionschef Dennis Thering will sowohl Brokdorf wie Moorburg sofort entmotten, da wir sonst „im Winter im Kalten und Dunkeln“ säßen. Das zuständige Kieler Energiewende-Ministerium hingegen betont, die Genehmigung für eine Reaktivierung von Brokdorf dürfe nach Atomgesetz „nicht mehr erteilt werden“.

In den sozialen Medien findet derweil eine angeregte Diskussion auch unter Klima:schützerinnen statt, ob man aufgrund der aktuellen Lage nicht doch übergangsweise auf Moorburg und Brokdorf setzen müsse. Tenor der Umweltbewegten, deren Parole über Jahrzehnte „Alle AKWs Abschalten – sofort!“ lautete: Das sind Fragen, die wir uns nie stellen wollten.
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Vor allem die Grünen tun sich schwer, Moorburg und Brokdorf kurzzeitig wieder in Betrieb gehen zu lassen: Der Kampf gegen Moorburg war unter dem Slogan „Kohle von Beust“ das grüne Top-Thema im Bürgerschaftswahlkampf 2008. Der erbitterte, teils gewaltsame Widerstand gegen die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf, ist gar eine der Keimzellen der norddeutschen Anti-AKW-Bewegung und auch der Hamburger Grünen.
Abschaltung der AKW war Triumph für Hamburgs Grüne
Die Abschaltung beider Kraftwerke im vorigen Jahr war für viele Grüne deshalb ein später Triumph und Symbol einer endlich in Gang gekommenen Energiewende. Während Moorburg die Klimakrise weiter anheizen würde, ist die Wiederinbetriebnahme von Brokdorf allein wegen der ungelösten Endlagerfrage kaum verantwortbar. So fällt auf, dass die Grünen sich beim Thema, ob Kohlekraftwerke oder Atommeiler noch ein bisschen länger laufen dürfen, bedeckt halten. Wo zu Oppositionszeiten noch ein vielstimmiger Aufschrei aus grünen Kehlen erfolgt wäre, muss man heute grüne Politiker:innen schon ziemlich bitten, bevor sie Stellung zur Reaktivierung der abgeschalteten Kraftwerke nehmen.
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Dabei ist das Spitzenpersonal der Hamburger Grünen – noch – geschlossen gegen eine Ehrenrunde von Moorburg und Brokdorf, nicht aber grundsätzlich mehr dagegen, laufende Kohlekraftwerke länger als geplant zu betrieben. So führt etwa Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) mit Rückendeckung von Bürgermeister Peter Tschentscher einen standhaften Abwehrkampf gegen das von Wirtschaftssenator Michael Westhagemann, geforderte Moorburg-Comeback. Zwar glaubt Kerstan inzwischen, es mache Sinn, aufgrund der Energiekrise „das eine oder andere Kohlekraftwerk etwas später abzuschalten als geplant.“ Doch vor der eigenen Haustür in Moorburg gelte das nicht: Hier fehlen laut Kerstan längst das Personal und die technischen Voraussetzungen für eine Wiederinbetriebnahme.
Hamburgs Grüne sind gegen „Ehrenrunde“ von Moorburg
Johannes Müller, energiepolitischer Sprecher der Grünen Fraktion unterstützt diese Position: „Auch wenn die Maßnahme der Bundesregierung richtig ist, betriebsbereite Kohlekraftwerke aus der stillen Reserve zu reaktivieren, lässt sich das in Moorburg schlicht nicht realisieren: Wichtige Teile wie Dampfturbinen sind längst als Ersatzteile verkauft, Betriebsmittel und Anlagen wurden entfernt.“ Und was Brokdorf betrifft, widerspricht Müller dem TÜV vehement: „Abgeschaltete Großkraftwerke kann man nicht einfach wie einen alten Wagen aus der Garage holen und den Schlüssel umdrehen.“
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Doch der grüne Widerstand gegen Atom und Kohle als Übergang bröckelt, täglich. Auf Bundesebene werden dem bislang strikten grünen Anti-Atomkurs neue Weichmacher beigemischt. Noch lehnen die Bundes-Grünen eine „Laufzeitverlängerung“ der noch laufenden Atommeiler zwar ab, nicht aber deren „Streckbetrieb“ bis nach dem Ende der Heizperiode im Frühsommer 2023. Die Angst vor einem Winter mit gedrosselte Heizung lässt in der Bevölkerung längst die Atomangst in den Hintergrund treten. In einer nicht repräsentativen Leser:innenumfrage des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlages erklärten diese Woche 60 Prozent der Befragten, sie hätten nichts gegen ein wenig mehr Atomstrom aus Brokdorf einzuwenden, während sich nur 20 Prozent strikt gegen ein Wideranfahren des Reaktors aussprachen. Wie lange werden dass auch die Grünen noch tun?