Ronald Schill: Hamburgs peinlichster Senator und der Skandal-Auftritt im Bundestag
„Richter Gnadenlos“ genannt zu werden, stört ihn nicht. Im Gegenteil. Im Ruf zu stehen, unerbittlich zu sein, findet er gut. Dagegen geht ihm der Spitzname, der ihm im Sommer 2002 verpasst wird, gehörig gegen den Strich: „Senator Peinlich“. Alle Welt zerreißt sich da das Maul über den taktlosesten Auftritt, den je ein Politiker im Bundestag hingelegt hat.
20 Jahre ist das her: Eine Flutkatastrophe an Elbe und Donau hat damals zu schweren Überschwemmungen geführt, in Deutschland, Tschechien und Österreich 45 Todesopfer gefordert und 15 Milliarden Euro Schäden verursacht. Im Bundestag soll es an diesem 29. August 2002 deshalb um Hilfe für die Flutopfer gehen. Eigentlich. Doch dann tritt Hamburgs Innensenator Ronald Barnabas Schill ans Mikrofon …
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„Richter Gnadenlos“ genannt zu werden, stört ihn nicht. Im Gegenteil. Im Ruf zu stehen, unerbittlich zu sein, findet er gut. Dagegen geht ihm der Spitzname, der ihm im Sommer 2002 verpasst wird, gehörig gegen den Strich: „Senator Peinlich“. Alle Welt zerreißt sich da das Maul über den taktlosesten Auftritt, den je ein Politiker im Bundestag hingelegt hat.
20 Jahre ist das her: Eine Flutkatastrophe an Elbe und Donau hat damals zu schweren Überschwemmungen geführt, in Deutschland, Tschechien und Österreich 45 Todesopfer gefordert und 15 Milliarden Euro Schäden verursacht. Im Bundestag soll es an diesem 29. August 2002 deshalb um Hilfe für die Flutopfer gehen. Eigentlich. Doch dann tritt Hamburgs Innensenator Ronald Barnabas Schill ans Mikrofon …
Es soll um Flutopfer gehen, aber Schill hält eine Brandrede
Mit einer Brandrede gegen Asylbewerber und bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge, gegen angebliche Luxusgefängnisse mit Schwimmbad und gegen die – seiner Meinung nach – desaströse Finanzpolitik der Bundesregierung sorgt Schill für Unmut. Genervte Abgeordnete aus allen Fraktionen verlangen: „Sprechen Sie doch mal zum Thema!“
Schill lässt sich nicht beirren, stellt sogar den Beitritt Polens zur EU infrage, weil dies viel zu kostspielig sei. Als ihn nach Ende der 15-minütigen Redezeit Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs (SPD) auffordert, zum Ende zu kommen, weigert er sich, das Podium zu verlassen. Als Bundesratsmitglied könne er reden so lange, wie er wolle. Als ihm Anke Fuchs schließlich den Saft abdreht, beginnt Schill zu pöbeln, räumt nur unter heftigem Protest das Pult, spricht von einem Bruch der Verfassung.
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Am Abend ist Hamburgs Innensenator Schill wahrscheinlich sogar noch stolz auf sich: Er hat es in die „Tagesschau“ geschafft. Ein Gratis-Spot, pünktlich zur Bundestagswahl fünf Wochen später. Ob er wirklich denkt, dass er punkten konnte? Am nächsten Tag bricht ein Sturm der Empörung los: Der Münsteraner Ortsverband der Schill-Partei will den eigenen Vorsitzenden sogar aus der Partei ausschließen, weil der diese„gnadenlos blamiert“ habe. „Jämmerlich“, „dümmlich“, „perfide“, „peinlich“, so wird die Rede von den Medien kommentiert. Hamburgs SPD fordert Bürgermeister Ole von Beust auf, Schill zu entlassen, denn der habe sich seines Amtes als „unwürdig“ erwiesen.
Ronald Schill – die peinlichste Figur in Hamburgs Nachkriegspolitik
So weit kommt es zwar nicht, aber die Quittung ist doch deutlich: Schills Partei erringt bei der Bundestagswahl im September 2002 jämmerliche 0,25 Prozent. Die Hoffnung, an das Sensationsergebnis von der Bürgerschaftswahl im Jahr davor anknüpfen zu können, erfüllt sich nicht.
Ronald Barnabas Schill – die peinlichste Figur in Hamburgs Nachkriegspolitik. Geboren wird er 1958, wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Großvater Kurt Schill war Widerstandskämpfer und wurde von den Nazis ermordet.
Ronald Schills Vater leidet ein Leben lang an traumatischen Kindheitserfahrungen und sucht im Alkohol Zuflucht. Ein Quartalstrinker, der gewalttätig wird, wenn er blau ist. „Ich wurde Zeuge, wie mein Vater meiner Mutter immer wieder Gewalt antat“, erzählt Schill in einem „Stern“-Interview. „Ich konnte nicht helfen. Es war schrecklich.“
Die Eltern trennen sich. Ronald Schill ist anfangs ein schlechter Schüler, aber als er bemerkt, dass man über Leistung Anerkennung erntet, stürzt er sich nur so ins Lernen. Er schafft den Numerus clausus, beginnt ein Psychologie-Studium. „Menschliches Verhalten ist das Spannendste überhaupt auf der Welt“, sagt Schill.
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Nach zwei Semestern gibt er das Fach auf, wechselt an die juristische Fakultät, wird Richter und macht sich einen Namen mit skandalösen Urteilen. Einerseits spricht er im Februar 1997 einen Polizisten frei, dem vorgeworfen wird, Schwarze auf der Wache misshandelt zu haben. Andererseits verurteilt er die psychisch kranke Röntgenassistentin Agnes B. zu zweieinhalb Jahren Haft – weil sie Autos zerkratzt hat. Die MOPO tauft ihn „Richter Gnadenlos“.
„Richer Gnadenlos“ schickt eine psychisch Kranke für zweieinhalb Jahre in den Knast
Für Aufsehen sorgt ein Strafverfahren gegen Schill wegen Rechtsbeugung. Im Mai 1999 lässt er während eines Prozesses zwei randalierende Zuhörer festnehmen und in Ordnungshaft stecken. Beschwerden der Rechtsanwälte leitet Schill einfach nicht weiter. So ist die dreitägige Haft bereits abgesessen, bevor das Oberlandesgericht über die Rechtmäßigkeit entscheiden kann.
Das hat Konsequenzen: Schill wird suspendiert, ins Zivilrecht strafversetzt – und fällt den Entschluss, sich an der in Hamburg regierenden SPD zu rächen. „Wenn ihr mir meinen Traumjob nehmt, dann nehme ich euch euren Traumjob.“ Sein Plan: „Ich gründe eine Partei und werde das Bundesland Hamburg innerhalb von 15 Monaten erobern. Dann seid ihr draußen und ich bin drin.“
Klingt total verrückt – aber es klappt. Schill gründet die „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ und zieht im Wahlkampf die Aufmerksamkeit auf sich, indem er härtere Strafen fordert. Er verspricht, im Falle eines Wahlsiegs zusätzlich 2000 Polizisten einzustellen und die Gewaltkriminalität in Hamburg innerhalb von 100 Tagen zu halbieren – Zusagen, die er später übrigens nicht hält.
Seit Ende der 90er Jahre ist die innere Sicherheit das alles beherrschende Thema in Hamburg. Einbrüche, Straßenraub und Drogenhandel nehmen zu. Spektakuläre Fälle wie der Mord am 73-jährigen Lebensmittelhändler Willi Dabelstein, der im Juni 1998 von zwei Jugendlichen erstochen wird, erschüttern die Öffentlichkeit. So kommt ein Law-and-Order-Mann wie Schill, der ankündigt, mal so richtig aufzuräumen, bei weiten Teilen der Wählerschaft gut an.
2001 holte seine Partei aus dem Stand 19,4 Prozent
Aus dem Stand holt die Schill-Partei 19,4 Prozent. Die SPD bleibt zwar stärkste Fraktion in der Bürgerschaft, aber CDU, Schill und FDP erringen zusammen genug Sitze, um eine neue Regierung zu bilden. Der Christdemokrat Ole von Beust wird Bürgermeister, Schill Innensenator – und freut sich diebisch: „Ich habe Olaf Scholz die größte Niederlage seines Lebens zugefügt. Ich liebe es, Menschen in Extremsituationen zu bringen. Am liebsten Frauen im Bett. Aber zur Not auch mal Herrn Scholz.“
Schill gilt als der mit Abstand faulste Innensenator in Hamburgs Geschichte. Erst um 11 Uhr kommt er in die Behörde und weil er morgens der Letzte ist, geht er am Nachmittag auch als Erster. Die Arbeit überlässt er seinem Staatsrat Walter Wellinghausen. „Der hat mir den Rücken freigehalten, deswegen konnte ich es mir leisten, mein lasterhaftes Leben fortzusetzen“, sagt Schill später in einem Interview. „Ohne Wellinghausen hätte ich ja selbst arbeiten müssen.“
Viel Zeit verbringt Schill im Promi-Club „Insel“ an der Alster, beschäftigt sich mit dem, was ihm am meisten Spaß bereitet: Frauen vernaschen. Die „Bunte“ berichtet über Quickies auf Partys und über lautes, immer wiederkehrendes Gestöhne aus der Wohnung Schills, das Nachbarn zur Verzweiflung treibt. Später bekennt er: „Mir sprangen die Frauen mit gespreizten Beinen entgegen.“ Für Frauen seien Männer mit Macht eben noch unwiderstehlicher als Männer mit Geld … Der Narzisst und zwanghafte Rammler muss sich gefühlt haben wie im siebten Himmel.
Anfang 2002 machen Gerüchte die Runde, wonach Schill drogenabhängig sei. Die Bombe platzt, als das NDR-Magazin „Panorama“ einen Zeugen präsentiert – selbst Mitglied der Schill-Partei –, der eidesstattlich versichert, er habe dreimal gesehen, wie Schill bei verschiedenen Anlässen ein schwarz-blaues Döschen aus der Tasche zog. Darin habe sich ein weißes Pulver befunden, das sich Schill auf das Zahnfleisch aufgetragen habe. Der Haartest, den Schill daraufhin machen lässt – die Untersuchung findet in München statt –, spricht allerdings eine andere Sprache. Ergebnis: von Kokain keine Spur!
Schill versucht von Beust zu erpressen – und wird gefeuert
Wenig später die besagte Peinlich-Rede im Bundestag. Bis dahin sind Schill und von Beust gut miteinander ausgekommen. Aber jetzt ist der Bürgermeister bedient. Von Beust tobt, ist stinksauer, dass sein Innensenator den Auftritt im Parlament für Wahlkampf missbraucht hat. Wer im Bundestag oder im Bundesrat spricht, habe für das Land zu sprechen und „nicht als Parteivorsitzender“. Für eine Rede dieses Inhalts habe „Herr Schill nicht das Mandat des Senats“ gehabt. Batsch, batsch – diese Ohrfeigen sitzen.
Ein Jahr später dann der endgültige Bruch. Der Anlass: ein Skandal um Walter Wellinghausen. Dem Staatsrat wird vorgeworfen, Gelder aus unerlaubten Nebeneinkünften bezogen zu haben. Am 19. August 2003 teilt Ole von Beust Schill mit, dass er Wellinghausen entlassen werde. Schill ist außer sich. Vor allem, weil er fürchtet, ohne Wellinghausen in die Verlegenheit zu kommen, seine Behörde selbst zu leiten.
Schill fährt aus der Haut, bedroht den Bürgermeister, ja, erpresst ihn: „Wenn du Wellinghausen entlässt, dann bist du geliefert. Dann bist du dein Amt los“, brüllt Schill ihn an. Dann werde er der Öffentlichkeit mitteilen – und zwar „heute Abend, Primetime!“ –, dass der Bürgermeister für seine persönlichen sexuellen Neigungen das Amt missbraucht habe. Denn von Beust habe Roger Kusch nur deshalb zum Justizsenator gemacht, weil er mit ihm ein Liebesverhältnis unterhalte. Schill behauptet, er habe Beweise …
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Schill lebt in Rio in einer Favela von 1400 Euro Richterpension
Der Erpresste reagiert anders, als es der Erpresser erwartet hat: Ole von Beust jagt seinen Innensenator erst aus dem Büro, dann aus dem Amt. Für Schill die schwärzeste Stunde seines Lebens. Der „Partynator“ gefeuert, zum Teufel gejagt. Ein desatröser Abgang. Das Haar zerzaust, die Augen übermüdet, über der Oberlippe eine dicke Herpeswunde – so tritt Schill am gleichen Tag vor die Presse. Nichts mehr vom schillernden Triumphator, den er 23 Monate zuvor nach seinem bombastischen Wahlsieg gegeben hat.
Schill kassiert 175.000 Euro Übergangsgeld für seinen Senatorenposten, taucht in Rio de Janeiro unter, kauft sich ein Häuschen in der Favela Pavão-Pavãozinho, lebt von 1400 Euro Richterpension. Seither ruft er sich alle paar Jahre mal in Erinnerung. Schreibt entweder ein Buch, in dem er seine Sex-Abenteuer ausbreitet. Oder wirkt in zweifelhaften Reality-Shows mit: 2016 nackt bei „Adam sucht Eva“, 2020 bei „Promis unter Palmen“, zuletzt bei „Kampf der Realitystars – Schiffbruch am Traumstrand“. Aber mit Schiffbruch kennt er sich ja auch aus.