Michael Winterhoff bei „Anne Will“
  • Michael Winterhoff war häufiger Talkshow-Gast, hier bei „Anne Will“.
  • Foto: imago/Müller-Stauffenberg

Kinderseelen zerstört? Schwere Vorwürfe gegen berühmten Psychiater

Michael Winterhoff (66) saß regelmäßig bei Lanz, Maischberger, Will. Viele seiner Bücher, wie etwa „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ aus dem Jahr 2008, sind Bestseller. Sein Wort hat Gewicht, an vielen Jugendämtern gab er Schulungen. Eine gemeinsame Recherche von WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) zeigt nun: Winterhoff selbst war vermutlich der eigentliche Tyrann, er soll Kinder mit falscher Medikamentierung auf Basis seiner kruden, nicht wissenschaftlich belegten Thesen misshandelt haben. Mittlerweile wurde eine Strafanzeige eingereicht. Wegen des Anfangsverdachts auf schwere Körperverletzung.

Pipamperon ist ein heftiges Psychopharmakon. Es wird bei Patient:innen eingesetzt, die besonders unruhig, hyperaktiv oder aggressiv sind. Es wirkt extrem sedierend, macht müde, apathisch, teilnahmslos. Offenbar hat Winterhoff das Neuroleptikum hunderten von Kindern verschrieben. Teils über Jahre hinweg. Mit der immer gleichen Diagnose: eine „Entwicklungsretardierung mit Fixierung im frühkindlichen Narzissmus und in der ödipalen Phase“, sowie eine „Eltern-Kind-Symbiose“. Und zwar, wie die Recherche zeigt, nach jeweils sehr kurzen Arztgesprächen mit oberflächlichen Fragen wie: „Wie geht es dir?“ Mit 20 ehemaligen Patient:innen sprach das Rechercheteam, heute allesamt junge Erwachsene.

Winterhoffs These: Heutige Kinder sind Tyrannen

Dumm nur: Beide Diagnosen finden sich nicht im weltweiten offiziellen ICD-Katalog, in dem Krankheiten klassifiziert werden. Stattdessen entsprechen sie eben Winterhoffs Thesen aus seinen Büchern. Grob zusammengefasst: Eltern hätten seit Mitte der Neunziger ihre Kinder nicht mehr im Griff, würden nicht genug Grenzen aufzeigen, pflegten eine zu starke Eltern-Kind-Bindung. Die Folge: Kinder wären zu narzisstischen Tyrannen mutiert. Mit dieser provokanten Haltung hatte Winterhoff Erfolg, in den Buchhandlungen wie in den Talkshows.

Gerade Letzteres thematisiert selbstkritisch auch die zugehörige WDR-Doku: Die Medien hofierten den Mann über Jahre. Weil: Seine Thesen provozieren, stehen gegen den Zeitgeist. Und wenn‘s knallt, dann stimmen Einschaltquote und Klickzahlen. Leider hatte das wiederum indirekt zur Folge, dass tausende Eltern seine Thesen lasen, hunderte Erzieher:innen seine Schulungen besuchten.

Erzieherinnen und Erzieher schimpfen über „System Winterhoff“

Die befragten Kolleg:innen sprechen häufig vom „System Winterhoff“. Das etwas „Guruhaftes“ an sich gehabt hätte, das Wort „Sekte“ fällt mehrfach in den Berichten von WDR und SZ. Unter anderem kommt Michael Schulte-Markwort zu Wort, Kinderpsychiater und Klinischer Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Oberberg in Hamburg. Kindern Narzissmus zu diagnostizieren hält er für grundlegend verkehrt. „Ich kenne keine tyrannischen Kinder“, sagt er unter anderem. Sie seien vielleicht wütend, aggressiv, verzweifelt. Aber Tyrannen, Sadisten? „Kinder sind nicht sadistisch“, so der Hamburger.

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Am eindrücklichsten aber sind die Berichte, wenn die Sicht der ehemaligen Patient:innen gezeigt wird. Einige haben sich nun offenbar ein Herz gefasst. Der Anwalt, der die Strafanzeige eingereicht hat, soll laut SZ der Siegburger Anwalt Mehmet Daimagüler sein, der auch im NSU-Prozess in München Opfer-Angehörige vertrat.

Das sagt Michael Winterhoff zu den Vorwürfen

Michael Winterhoff nimmt zu den Vorwürfen wie folgt Stellung: „Winterhoffs Presseanwalt Carsten Brennecke teilt mit, dass der WDR-Bericht nach Winterhoffs Ansicht Falschdarstellungen enthält. Herr Winterhoff gehe gegen die WDR-Berichterstattung bereits juristisch vor“.

Weiter heißt es: „Das Medikament Pipamperon sei für Kinder mit psychomotorischen Erregungszuständen zugelassen. Herr Dr. Winterhoff habe Pipamperon nur dann verschrieben, wenn Kinder zum Beispiel von Aggressionen, Stimmungslabilität und Verwirrtheit beherrscht sind und für das Gegenüber nicht anders erreichbar sind. Herr Dr. Winterhoff setze das Medikament in einer Dosierung ein, die zu keiner Sedierung führt. Der durch den WDR erweckte Eindruck, Herr Dr. Winterhoff habe das Medikament bei seinen Patienten flächendeckend eingesetzt, sei falsch. Das Medikament wurde nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation verordnet. Die Verordnung des Medikaments bei Kindern sei aufgrund einer Zulassung des Medikaments für Kinder unstreitig zulässig. Die notwendigen Einwilligungserklärungen für die Verordnung der Medikamente lagen ebenfalls vor, jedenfalls konnte Herr Dr. Winterhoff in jedem Einzelfall davon ausgehen, dass Einwilligungen vorlagen.“ (km)

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