Trotz Fachkräftemangel: Warum sind immer noch zehntausende Hamburger arbeitslos?
Mehr als 77.000 Hamburger:innen sind derzeit ohne Arbeit – dabei müsste der Fachkräftemangel verfügbare Arbeitskräfte doch vom Markt saugen. Mit fast 14.000 freien Stellen gibt es tatsächlich so viele Angebote wie lange nicht. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit in Hamburg in den vergangenen Monaten sogar noch gestiegen. Wie passt das zusammen? Die MOPO hat beim Chef der Hamburger Agentur für Arbeit, Sönke Fock, nachgefragt.
MOPO: Herr Fock, es gibt so viele offene Stellen wie lange nicht, aber die Arbeitslosenzahlen steigen. Wie kann das sein?
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Mehr als 77.000 Hamburger:innen sind derzeit ohne Arbeit – dabei müsste der Fachkräftemangel verfügbare Arbeitskräfte doch vom Markt saugen. Mit fast 14.000 freien Stellen gibt es tatsächlich so viele Angebote wie lange nicht. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit in Hamburg in den vergangenen Monaten sogar noch gestiegen. Wie passt das zusammen? Die MOPO hat beim Chef der Hamburger Agentur für Arbeit, Sönke Fock, nachgefragt.
MOPO: Herr Fock, es gibt so viele offene Stellen wie lange nicht, aber die Arbeitslosenzahlen steigen. Wie kann das sein?
Sönke Fock: Der Anstieg seit Juni liegt an saisonalen Faktoren und an der Übernahme von ukrainischen geflüchteten Menschen in die Grundsicherung. Allein dadurch ist die Zahl um mehr als 2500 Personen gestiegen. Bis Mai ging die Arbeitslosigkeit eigentlich zurück.

Die Ukrainer:innen machen ja aber nur einen kleinen Teil aus. Wer ist sonst ohne Arbeit?
Viele denken, dass es immer die gleichen Menschen sind. Aber das ist nicht so. Es gibt sehr viel Bewegung im Arbeitsmarkt. Nur etwa 24.000 der mehr als 77.000 Arbeitssuchenden sind länger als zwölf Monate ohne Arbeit. Die anderen finden vorher wieder eine Stelle. Etwa 25.000 Menschen fallen zudem in die sogenannte Such-Arbeitslosigkeit. Das sind Menschen, die zwar nicht nahtlos von einem in den nächsten Job übergehen, aber eine gute Perspektive haben. Meistens liegen zwei, drei Monate zwischen den Stellen.
Aber müsste es mit dem Fachkräftemangel jetzt nicht viel schneller gehen, neue Stellen zu finden?
Teilweise. Der Fachkräftemangel ist in allen Branchen gegeben, aber die Größenordnung ist unterschiedlich. Deshalb gibt es fachliche Qualifikationen, die derzeit besonders gesucht werden. Pflegekräfte, Erzieher, Menschen mit IT-Berufen oder Ingenieure zum Beispiel gehen weg wie geschnitten Brot (lacht). In anderen Bereichen ist die Nachfrage nicht so groß. Zum Beispiel im stationären Einzelhandel im Schuh- oder Textilverkauf. Aber auch in den Branchen muss man auf Details achten, denn im Online-Handel ist die Lage zum Beispiel schon wieder anders.
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Man muss also nur ein bisschen flexibel sein, dann findet man Arbeit?
Fachliche Flexibilität hilft. Aber es ist auch eine Frage der Mobilität, der Arbeitszeiten und ob man etwa Familie und Beruf unter einen Hut bringen muss, und manchmal auch eine Frage der Bezahlung. Außerdem müssen die Arbeitnehmer ja auch zu den Betrieben und Aufgaben passen. Menschen, die länger arbeitslos sind, haben außerdem meistens keinen Berufsabschluss. In der Pandemie haben erst Jüngere und dann Un- und Angelernte ihre Stellen verloren. Wenn es dann noch gesundheitliche Probleme gibt, ein höheres Alter erreicht wird oder ein Defizit in Grundarten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen besteht, haben sie es besonders schwer.
Haben diese Gruppen durch den Personalmangel jetzt wieder eine größere Chance?
Ja, die Chance steigt. Im Vergleich zum August 2021 haben wir jetzt 4000 weniger Langzeitarbeitslose. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Hamburg wächst – und der Arbeitsmarkt ist auch aufnahmefähig für Gruppen, die es eigentlich schwer haben. Allerdings haben Ungelernte gerade in Krisenzeiten ein höheres Risiko, wieder arbeitslos zu werden. Um dauerhaft Arbeit zu haben und Karriere zu machen, brauchen sie eine Qualifizierung.
Hier lebende Ausländer sind in der Arbeitslosenstatistik überrepräsentiert. Warum bekommen wir es nicht hin, sie auch in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Wir integrieren sie in den Arbeitsmarkt. Viele von ihnen, die 2015 und 2016 kamen, haben in den unterschiedlichsten Branchen, wie zum Beispiel Bau, Gastronomie oder Pflege, Fuß fassen können.
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Gerade kommen mit der Energiekrise schwere Zeiten auf uns zu. Der Stahlkonzern Arcelormittal hat schon angekündigt, die Produktion auch in Hamburg einzuschränken. Wie wirkt sich das auf den Arbeitsmarkt aus?
Die Risiken für den Arbeitsmarkt steigen. Ich denke aber, dass mehrere Faktoren die Wucht eines möglichen Wirtschaftsrückgangs abmildern können: Kurzarbeit, die die Unternehmen wohl nutzen werden, weil sie die Fachkräfte später sonst nicht zurückbekommen. Die Zeitverzögerung, mit der der Arbeitsmarkt immer reagiert, und der demografische Wandel. In Hamburg sind von mehr als einer Million sozialversicherungspflichtigen Angestellten etwa 200.000 Menschen zwischen 55 und 65 Jahre alt, die nachwachsende Generation umfasst aber bis zu 60.000 Personen weniger. Selbst wenn Menschen arbeitslos werden, kann der Fachkräftemangel das abpuffern.
Arbeitslosigkeit in Hamburg: So sieht sie aus
77.911 Menschen waren in Hamburg im August insgesamt arbeitslos gemeldet. 24.292 Menschen (31,2 Prozent) waren es schon mehr als zwölf Monate und gelten damit als langzeitarbeitslos.
Mit 47,9 Prozent Frauen und 52,1 Prozent Männern war das Geschlechterverhältnis unter allen Arbeitssuchenden in Hamburg recht ausgeglichen. Die meisten waren mit 73,1 Prozent zwischen 25 und 55 Jahre alt, das sind 56.976 Menschen. 7,7 Prozent der als arbeitslos Gemeldeten waren unter 25 Jahre alt, 19,1 Prozent über 55 Jahre. Mit 59,6 Prozent waren mehr als Hälfte Deutsche, 40,4 Prozent Ausländer.
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Der Großteil der Arbeitslosen hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, was als einer der Hauptgründe für die Arbeitslosigkeit gilt. Unter allen Arbeitslosen waren es im August 58,2 Prozent, unter den Langzeitarbeitslosen waren es sogar 63,6 Prozent. 41,8 Prozent aller arbeitslosen Hamburg waren aber auch Fachkräfte.
Mit 9,4 Prozent war die Arbeitslosenquote im Bezirk Mitte am höchsten. Im Bezirk Eimsbüttel lag die Quote mit 5,4 am niedrigsten.