Er will das Blutgeld zurück! Salo Mullers Kampf gegen die Deutsche Bahn
Er ist Physiotherapeut bei Ajax Amsterdam gewesen, hat Stars wie Johan Cruyff, Piet Keizer und Rinus Michels fit gemacht und wurde bei den Fans selbst zur Legende. Über seine Vergangenheit und die seiner Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden, hat er fast ein halbes Jahrhundert kein Wort gesprochen. Aber heute – er ist inzwischen 87 Jahre alt –, da redet er. Und er redet nicht nur. Er kämpft. Um Wiedergutmachung. Er klagt die Deutsche Bahn an. Denn es war die Reichsbahn, die seine Eltern und Millionen weiterer Juden zu den Vernichtungslagern transportierte und daran auch noch verdiente.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen //
online kündbarMOPO+ Jahresabo
für 79,00 €Jetzt sichern!Spare 23 Prozent!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach zum gleichen Preis lesen //
online kündbar
Er ist Physiotherapeut bei Ajax Amsterdam gewesen, hat Stars wie Johan Cruyff, Piet Keizer und Rinus Michels fit gemacht und wurde bei den Fans selbst zur Legende. Über seine Vergangenheit und die seiner Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden, hat er fast ein halbes Jahrhundert kein Wort gesprochen. Aber heute – er ist inzwischen 87 Jahre alt –, da redet er. Und er redet nicht nur. Er kämpft. Um Wiedergutmachung. Er klagt die Deutsche Bahn an. Denn es war die Reichsbahn, die seine Eltern und Millionen weiterer Juden zu den Vernichtungslagern transportierte und daran auch noch verdiente.
Von Salomon „Salo“ Barend Muller ist die Rede. Anlässlich des Auschwitz-Gedenktages am 27. Januar – vor 79 Jahren wurde das Vernichtungslager von der Roten Armee befreit – besucht er Hamburg und sitzt auf der Bühne vom „Centralkomitee“ in St. Georg, dem ehemaligen „Polittbüro“. Seine Stimme ist rau und leise. Im Zuschauerraum: junge Menschen, die ihm gespannt zuhören, während er seine Geschichte erzählt.
Es ist das Jahr 1942. Der Zweite Weltkrieg tobt seit drei Jahren in Europa. Die Wehrmacht hat Polen, die Beneluxstaaten und Frankreich, Jugoslawien und Griechenland besetzt. Inzwischen führt Diktator Adolf Hitler auch Krieg gegen die Sowjetunion. Wehrmacht und SS plündern, morden und brandschatzen. Der Massenmord an den europäischen Juden, die Shoa, der Holocaust, hat begonnen. Dafür ist Logistik nötig – und die stellt die Deutsche Reichsbahn.
„Bis heute Abend … und sei ein braver Bub!”
Amsterdam an einem sonnigen Tag im Mai 1942: Salos Mutter sagt dem Sechsjährigen morgens zum Abschied: „Bis heute Abend … und sei ein braver Bub!“ Er ahnt nicht, dass es das Letzte ist, was er je von seiner Mutter hören wird. Aus dem Kindergarten wird er abends von einem Nachbarn zu seiner Tante gebracht. Dann klopfen dort deutsche Soldaten an die Tür. Sie finden Salo, nehmen ihn mit – weil er Jude ist.
Er kommt in das Theater Hollandsche Schouwburg in Amsterdam, das von den Nazis als Judensammelstelle zweckentfremdet wird. Es ist voll mit Hunderten Menschen. Plötzlich sieht Salo Muller zwischen all den Fremden seine Eltern, die von den Nazis ebenfalls abgeholt worden sind. Er rennt zu ihnen. Zwei deutsche Soldaten halten ihn auf. Der Junge wird in die Kinderkrippe des Theaters gebracht. Unterdessen werden seine Eltern in einen Viehwaggon der Deutschen Reichsbahn verfrachtet und nach Auschwitz transportiert, so wie Tausende andere holländische Juden.
Die Bahn machte das nicht umsonst. Vier Pfennig stellt sie dem NS-Staat pro Person und Kilometer in Rechnung. Kinder kosten die Hälfte, ab 400 Menschen gibt die Bahn Rabatt. Dieses Geld holen sich Gestapo und Reichssicherheitshauptamt von den Menschen zurück, die sie in ihre Todeslager deportieren, und zwar indem sie deren Besitztümer, die Immobilien und den Hausrat, beschlagnahmen und verkaufen.
Die Nazis ermorden also nicht nur die Juden Europas, die Juden müssen dafür sogar noch zahlen!
Kein Jahr, nachdem Salo Muller sie das letzte Mal gesehen hat, werden seine Eltern von den Deutschen in Auschwitz ermordet. Seine Mutter Lena Blitz wird am 12. Februar 1943 vergast. Seinen Vater Louis Muller töten sie am 30. April 1943. Das erfährt der Sohn allerdings erst sehr viel später.
Wenn sie ihn entdecken, ist er tot
Er selbst überlebt dank des jüdischen Kaufmanns Walter Süskind, der Dokumente für rund 100 jüdische Kinder gefälscht hat. Aus diesen Papieren geht hervor, dass Salo Muller und die anderen längst deportiert sind. Die deutschen Besatzer glauben das – und suchen nicht nach ihnen.
In Wahrheit aber befinden sich alle in Verstecken irgendwo in den Niederlanden. Salo Muller wird vom Widerstand nacheinander an acht verschiedenen Orten untergebracht, beispielsweise in Friesland, wo er „Japje“ genannt wird. Jahrelang darf er nicht mit Gleichaltrigen spielen, lebt immer in der Angst, entdeckt und ermordet zu werden.
Salo versteckt sich zwischen Ratten und Mäusen
Mal lebt er auf einer Farm, um die herum 200 deutsche Soldaten stationiert sind. Jeden Samstag kommen sie, um dort zu essen. Salo muss sich währenddessen unter dem Wohnzimmerboden verstecken, wo Ratten und Mäuse ihn beißen.
Dann wieder gewährt ihm ein Bauer Unterschlupf: Der nimmt ihn einmal mit zum Einkaufen. Als der Händler im Lebensmittelgeschäft damit droht, das jüdische Kind zu verraten, ersticht der Bauer den Mann vor den Augen des Jungen mit einer Mistgabel und vergräbt dessen Leiche.
Eines Tages wird Salo Muller in der Wohnung eines Schuldirektors versteckt. Als der geistig behinderte Sohn der Nachbarn damit droht, er werde allen sagen, dass hier ein fremder Mensch beherbergt wird, ergreift der Direktor den Jungen, schlägt ihn und hält ihm eine Pistole an den Kopf: „Wenn du das jemandem erzählst, bringe ich dich um!“
Muller kennt seinen eigenen Geburtstag nicht mehr
Am 5. Mai 1945 ist Salo Mullers Zeit im Versteck endlich zu Ende. Die Alliierten befreien die Niederlande. Zwei Tage später kapituliert die Wehrmacht bedingungslos. Das Nazi-Reich ist endgültig zerstört.
Mullers Tante hat den Krieg überlebt, und sie nimmt ihn zu sich. Das Kind leidet an Asthma, ist ängstlich, stottert. Er ist ein neunjähriger Junge, der nicht mehr weiß, wann er Geburtstag hat, und nur noch Friesisch spricht.
Mit zehn Jahren besucht er zum ersten Mal die Grundschule. Die Kinder in seiner Klasse sind vier bis fünf Jahre jünger als er. Salo will Arzt werden, besucht ein Elite-Gymnasium in Amsterdam, doch wegen rebellischen Verhaltens wird er der Schule verwiesen. Er wechselt auf eine Handelsschule, die er ohne Abschluss verlässt. Sein Traum, Mediziner zu werden, geht nicht auf.
Dafür wird er Physiotherapeut. Und das nicht irgendwo, sondern beim besten Fußballklub der Niederlande: Ajax Amsterdam. Er ist bei jedem Spiel, bei jedem Training dabei. Er behandelt Fußball-Legenden wie Johan Cruyff, Piet Keizer, Rinus Michels und wird selbst zur Ikone.
Er will Gedenken, sie drohen mit Kündigung
Wenn das Team zu Auswärtsspielen mit dem Zug reist, muss Muller daran denken, dass seine Eltern und viele andere Juden mit der Eisenbahn deportiert worden sind. Züge bereiten ihm „ein mulmiges Gefühl“: „Die Leute wurden in Viehwaggons transportiert, viele erstickten, es war furchtbar.“
1968 weigert er sich, mit dem Zug zu einem Europapokalspiel zu fahren, da das betreffende Spiel in Nürnberg („ausgerechnet Nürnberg!“) am 2. Oktober ausgetragen werden soll, also an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, an dem er jährlich seiner Eltern gedenkt. Als Muller deshalb um einen freien Tag bittet, droht ihm Ajax Amsterdam mit Kündigung. Er gibt nach.
Später hört Salo Muller beim Klub auf, macht sich selbstständig, baut eine der größten Physiotherapiepraxen der Niederlande auf, wird Chefredakteur einer Fachzeitung, ist erfolgreich und anerkannt. Er schreibt Bücher, Romane, auch Memoiren über seine Zeit bei Ajax Amsterdam.
Jetzt erzählt Salo Muller seine Geschichte
1993 dreht der amerikanische Regisseur Steven Spielberg den Film „Schindlers Liste“ und gründet im Jahr darauf die USC Shoah Foundation, die die Erinnerungen von Überlebenden sammelt. 1994 spricht Salo Muller zum ersten Mal öffentlich über seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Das ändert alles. Jetzt hält er Vorträge und veröffentlicht eine Autobiografie.
Immer wieder muss er an Lena Blitz und Louis Muller denken, seine Eltern, die 1942 von den Nazis in Güterwaggons verschleppt und 1943 in Auschwitz ermordet wurden. Er ist immer noch wütend, immer noch traurig – wie könnte er es auch nicht sein?
Am Ende zahlt die niederländische Bahn
2014 beginnt er zu kämpfen. Die niederländische Bahn hat am Transport von Juden in den Tod mitverdient. Er fordert sie auf, die Opfer der Transporte zu entschädigen. Die Antwort ist ernüchternd: Ja, die NS-Zeit sei sehr schlimm gewesen, aber individuelle Entschädigung – das könne sie nicht leisten.
Das niederländische Fernsehen berichtet, Salo Muller erhöht den Druck. Ein jahrelanger Kleinkrieg beginnt. 2018 knickt die niederländische Bahn schließlich ein.
Salo Muller sagt sich: „Wenn die zahlen, warum nicht auch die Deutsche Bahn?“ 2020 schreiben seine Anwälte die DB und die Bundesregierung an. Seither wird gestritten. Die Bahn verweist auf MOPO-Nachfrage auf ihre „kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Vorläuferorganisationen, insbesondere mit der Geschichte der Deutschen Reichsbahn im Nationalsozialismus“. Ausstellungen seien initiiert worden, Millionenbeträge an Stiftungen geflossen.
Er will nur zurück, was die Bahn genommen hat
Individuelle Entschädigungen aber lehnt die Deutsche Bahn ab, beruft sich darauf, dass sie nicht direkter Rechtsnachfolger der Reichsbahn sei. Deshalb müsse sie auch niemanden entschädigen. So der Standpunkt, der juristisch in Ordnung sein mag, aber ist er es auch moralisch?
Salo Muller findet sich nicht mit der Antwort ab. Ihn macht es wütend, dass die Juden ihren eigenen Transport in den Tod bezahlen mussten, und er will dieses Blutgeld zurück.
Sein Kampf geht weiter
Damit ist er am Ende seines Vortrags angekommen. Im Saal des „Centralkomitees“ in St. Georg verabschieden die Teilnehmer eine Resolution: Sie unterstützen Mullers Forderungen. Auf der Bühne spielt eine Band ein jiddisches Partisanenlied: „Sag niemals, dass du den letzten Weg gehst“.
Das könnte Sie auch interessieren: Holocaust-Gedenktag: 1700 Hamburger demonstrieren gegen „Alternative für Dummies“
Eine Frau in der ersten Reihe, deren Onkel und Schwester von den Nazis ermordet wurden, flüstert: „Wir leben ewig.“ Es ist klar: Salo Mullers Kampf ist noch nicht vorbei.