Menschen wurden Zeugen eines Wunders: Als Norddeutschlands erstes Radio startete
Es knarzt und knistert, der Ton ist noch ziemlich dumpf. Doch die Zuhörer staunen, denn sie sind Zeugen eines technischen Wunders. Sie sitzen vor ihren Detektorempfängern, haben Kopfhörer über den Ohren – und machen große Augen, als sie zum ersten Mal Worte hören. „Hier ist die NORAG!“, so lautet die Begrüßungsformel. Es ist die Stimme von Hans Bodenstedt, des Intendanten. Vor 100 Jahren nahm Hamburgs erster Radiosender seinen Betrieb auf. Gegen das neue Medium gab es Widerstand –Sportvereine, Lehrer und Opernhäuser lehnten es ab.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Unbeschränkter ZugangWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen
Wenn Sie E-Paper Kunde sind, betrifft diese Änderung Sie nicht.
Es knarzt und knistert, der Ton ist noch ziemlich dumpf. Doch die Zuhörer staunen, denn sie sind Zeugen eines technischen Wunders. Sie sitzen vor ihren Detektorempfängern, haben Kopfhörer über den Ohren – und machen große Augen, als sie zum ersten Mal Worte hören. „Hier ist die NORAG!“, so lautet die Begrüßungsformel. Es ist die Stimme von Hans Bodenstedt, des Intendanten. Vor 100 Jahren nahm Hamburgs erster Radiosender seinen Betrieb auf.
Im Grindelviertel an der Ecke Binderstraße/Schlüterstraße steht ein neugotischer Bau, der ein wenig an eine Kathedrale erinnert. Anfangs war hier Hamburgs Zentralfernsprechamt untergebracht. Später war das Gebäude Postfiliale, jetzt wird es von der Uni genutzt. Kaum einer weiß – und kein Schild, keine Tafel erinnert daran –, dass hier Rundfunkgeschichte geschrieben wurde. Die Rede ist vom Standort des ersten Hamburger Radiosenders.
Im alten Fernsprechamt an der Binderstraße wurde Radiogeschichte geschrieben
Anderswo in Deutschland gibt es damals bereits Radio: Am 29. Oktober 1923 ging in Berlin das erste deutsche Rundfunkprogramm auf Sendung. Knapp vier Monate danach, am 16. Januar 1924, kam in Hamburg eine Gruppe von Kaufleuten um den Getreidehändler Friedrich Blonck zusammen und gründete die Nordische Rundfunk AG, kurz: NORAG. Während sich die Unternehmer um das Kapital kümmerten, sorgte die Reichspost für die Sendetechnik und stellte auch die Studios zur Verfügung: fünf ehemalige Gepäckräume an der Binderstraße.
Das könnte Sie auch interessieren: In dieser Villa residierte Hamburgs schlimmster Massenmörder
Widerstände gegen das neue Medium gab es viele. Als Sportvereine hörten, dass die NORAG Fußball live übertragen wollte, waren sie besorgt: „Kommt dann überhaupt noch einer in die Stadien?“ Lehrer nahmen mit Entsetzen zur Kenntnis, dass es Schulfunk geben sollte: „Werden wir demnächst arbeitslos?“ Sorgen hatten auch die Zeitungsverlage: „Kauft noch jemand unsere Blätter?“ Und Opernhäuser waren gar nicht begeistert vom Plan der NORAG Konzerte, ja ganze Opern auszustrahlen. Sie zogen sogar in Erwägung, ihren Künstlern Auftrittsverbot zu erteilen.
- NDR Boxweltmeister Max Schmeling am Radiomikrofon, undatierte Archivaufnahme.
- NDR Der Verstärkerraum im NORAG-Gebäude an der Binderstraße.
- NDR Das Firmenschild der NORAG, des ersten norddeutschen Radiosenders.
- NDR Die Akustikkammer bei der NORAG in der Binderstraße: Hier werden Geräusche für Hörspiele erzeugt.
- NDR Der Sender wirbt um neue Hörer: Ein Werbewagen der NORAG macht Station in Uelzen.
- NDR NORAG-Sendegebäude in Moorfleet.
- NDR Der Verstärkerraum bei der NORAG an der Binderstraße in Hamburg.
- NDR Dieser Rundfunkhörer verwendet einen Trichterlautsprecher. Foto von 1928.
- Manfred Matschke Weil es noch keine Lautsprecher gibt, kann immer nur einer zurzeit Radio hören - hier Marie Kahlhöfer (l.) mit dem Kopfhörer.
- Schimkus Radio des kleinen Mannes: ein Detektorempfänger in Pultform mit Kopfhörer. Baujahr: etwa Ende der 30er Jahre
- privat Ein Radiobastler in den 20er Jahren mit seinem selbstmontierten Empfänger.
- NDR Werbepostkarte der NORAG aus dem Jahr 1924: Zwei Kinder sitzen vor ihrem Empfangsgerät und hören begeistert zu. Vor allem der Funkheinzelmann, Galionsfigur der NORAG, hat es Kindern damals angetan.
- NDR Das 1931 fertiggestellt NORAG-Funkhaus an der Rothenbaumchaussee
- NDR Aufnahmeraum der NORAG 1927. Hier wird klassische Musik eingespielt.
Jede Menge (verrückter) Gerüchte wurden in Umlauf gebracht. Der Rundfunk verbreite Krankheiten, sei fürs Viehsterben und für vermehrte Zwillingsgeburten verantwortlich und natürlich auch für Missernten. Ach ja, und an den Antennen würden die Wolken hängen bleiben, hieß es.
Mit 896 angemeldeten Hörern gibt es 1924 los
896 angemeldete Hörer verfolgten die erste Sendung der NORAG, die am 2. Mai 1924 ausgestrahlt wurde. Hinzu kam eine unbekannte Zahl an Schwarzhörern – Leute, die Radio empfingen, sich aber die anfangs 60 Reichsmark Teilnehmergebühr sparen wollten oder sie sich einfach nicht leisten konnten. Aber später wurde die Gebühr auf zwei Mark pro Monat gesenkt, und so ging auch die Zahl der registrierten Hörer steil nach oben. 1931 waren es schon 621.000.
Die Radiomacher von damals waren samt und sonders Autodidakten. Einer von ihnen, der Sprecher und Regisseur Karl Pünder, erzählte, wie aufgeregt er vor seiner ersten Sendung war. In einem mit dickem rotem Vlies behangenen Sendezimmer saß er. Nie vorher und nie danach sei er so aufgelöst gewesen. „Wider Erwarten klappte alles ganz gut!“, erzählt er rückblickend und lacht.
Das könnte Sie auch interessieren: Als in Planten un Blomen noch Elefanten, Löwen und Giraffen lebten
Zu Beginn sendete die NORAG nur ein paar Stunden, doch schon nach wenigen Monaten gab es den ganzen Tag über Programm. Schulfunk und Sport, „Interessantes für die Frau“, Tanzmusik und Oper. Hergestellt wurde alles im 8,5 mal zehn Meter großen Aufnahmeraum. Hier musizierten ganze Orchester live.
Ebenso live waren die Hörspiele – eine Erfindung der NORAG. Alle Sprecher standen nebeneinander vor den Mikrofonen und die Sounds – ob Pferdegetrappel, zischende Lokomotive, das Gebrüll von Löwen oder das Trompeten von Elefanten – wurden aus einer Geräusch-Maschine auf Knopfdruck eingespielt.
Der erste Indendant der NORAG: Hans Bodenstedt
Aktuelle Nachrichten aus aller Welt wollte die NORAG dem Hörer natürlich auch bieten. Doch woher sollten die Informationen kommen? Hauptfunkleiter Kurt Stapelfeldt hatte die Idee: Jeden Morgen um 6.45 Uhr begab er sich im Laufschritt zum Dammtorbahnhof, kaufte die druckfrischen Zeitungen – und las daraus vorm Mikrofon das Wichtigste vor.
Die Seele der NORAG war er: Intendant Hans Bodenstedt, ein ehemaliger Zeitungsmann. Er sprühte nur so vor Energie, arbeitete rund um die Uhr. Er war äußerst kreativ bei der Entwicklung neuer Programme. Als Erster ging er mit dem Mikrofon auf die Straße und befreite den Rundfunk aus seiner sterilen Studioatmosphäre. Er machte Reportagen in einem Flugzeug und drückte seinen Reportern ein Mikrofon in die Hand, damit sie einem Taucher auf den Grund des Meeres folgten. Er persönlich begleitete die Fahrt des Passagierdampfers „Bremen“ von Bremerhaven nach New York und ließ die Zuhörer mit dabei sein – so was hatte es noch nie gegeben.
Bodenstedt war es auch, der seinem Redakteur Kurt Esmarch den Auftrag gab, eine Sendung zu entwerfen, „die nach Tang und Teer riecht“. Das Ergebnis war das am 9. Juni 1929 erstmals ausgestrahlte Hamburger Hafenkonzert – eine Sendung, die es noch heute gibt. Es ist die älteste Rundfunksendung der Welt.
Der Funkheinzelmann – der Urgroßvater der Mainzelmännchen
Und noch etwas hat Bodenstedt erfunden: eine Märchenfigur. Den „Funkheinzelmann“ – wenn man so will der Urahn des Mainzelmännchens. Die Kinder saßen gebannt vor den Empfängern, wenn der Funkheinzelmann sie mitnahm ins „Schlaraffenland, zum Schloss der Elfenkönigin, das Hunderte große Zauberer aus Millionen kostbarer Gedanken und Sprüche gebaut haben“. Oder in ein kleines Dorf hinter den Harburger Bergen, „wo die Häuser rote und blaue Dächer haben und wo ein Kirchturm steht, der aussieht, als sei er aus Orgelpfeifen gebaut“. Alles war Bodenstedts Fantasie entsprungen.
Die Rundfunkhörer der ersten Stunde verfolgten das Programm der NORAG mit sogenannten Detektorempfängern. Die Hörqualität war schlecht, aber dafür waren die Geräte billig. Viele Werktätige kauften sich die Empfänger nicht, sie bauten sie sich selbst. Dafür gründeten sich in Hamburg sogenannte Arbeiterradiovereine, in denen sich die Mitglieder gegenseitig dabei halfen, so ein Ding zusammenzulöten. Nicht einmal Strom wurde für den Empfang benötigt.
Ganz wichtig für den Empfang war die Antenne. Und sie musste aufwendig installiert werden. Ein Zeitzeuge: „Vor dem Empfang stieg mein Vater aufs Dach und legte einen Ring um den Schornstein. Danach wurde im hinteren Ende des Gartens ein Mast eingegraben, der genauso hoch war wie der Schornstein. Dann wurden Haus und Mast durch zwei Drähte miteinander verbunden. Zwei Drähte wurden dann nach unten geleitet und endeten im Wohnzimmer am Fenster in einem Hebel, der, wenn man hören wollte, nach oben gerichtet wurde. War das Programm zu Ende, sagte die Stimme im Radio: ,Und vergessen Sie nicht, Ihre Antenne zu erden‘, und der Hebel kam wieder nach unten.“ Andernfalls hätte ein einziger Blitzeinschlag das wertvolle Radiogerät zerstören können.
Der Lautsprecher verdrängte endlich die Kopfhörer
Schnell entwickelte sich die Technik weiter. Es kamen Geräte auf den Markt, die statt mit einem Kristalldetektor mit Röhren ausgestattet waren, die das Signal verstärkten und deshalb ab 1926/27 erstmals das Hören über Lautsprecher ermöglichten. Damit verschwanden die Kopfhörer. Radio wurde zum Gemeinschaftserlebnis in der Familie oder in der Kneipe an der Ecke. Allerdings hatte die neue Technik ihren Preis: Ein Röhrengerät war nicht unter 300 Reichsmark zu erhalten, während es einen Detektorempfänger schon für 30 Reichsmark gab.
Als die NORAG 1924 startete, gab es viele Zweifler. Wie bitte sollte es gelingen, mit etwas mehr als 800 zahlenden Hörern ein solches Unternehmen zu finanzieren, fragten sich viele Beobachter und hielten das Projekt für eine Totgeburt. Doch die Optimisten sollten recht behalten: 1930 lieferte die NORAG schon 6200 Stunden Programm und hatte 277 fest angestellte Mitarbeiter.
Der Erfolg war so groß, dass die Räume im Fernmeldeamt bald nicht mehr ausreichten. Um ein wenig Platz zu schaffen, wurden 1928 zunächst Verwaltung und Direktion des Senders in die Engelbrecht’sche Villa, Rothenbaumchaussee 132, ausgelagert. Als sich dann die Möglichkeit bot, das Haus zu kaufen, schlug die NORAG zu. Nach erheblichen Um- und Ausbauten fand am 8. Januar 1931 die feierliche Einweihung des damals modernsten Funkhauses der Welt statt.
Die Nazis übernahmen die Kontrolle über die Medien
Keine drei Jahre später waren die Nazis an der Macht – und sie wussten sehr gut, wie wichtig für den Fortbestand ihrer Diktatur die Kontrolle über die Medien war. 1934 wurden alle privaten Rundfunkgesellschaften aufgelöst, die Funkhäuser zu „Reichssendern“ erklärt und Intendant Bodenstedt zum Teufel gejagt. In den folgenden elf Jahren sprachen Hitler und Goebbels zu den Hörern, fragten: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Und wer es wagte, einen „Feindsender“ einzustellen, spielte mit seinem Leben.
Am 3. Mai 1945 rückten britische Truppen in Hamburg ein. Der „Reichssender Hamburg“ stellte noch am selben Abend seinen Betrieb ein und meldete sich tags darauf um 19 Uhr als „Radio Hamburg“ zurück. Im Oktober 1948 wurde daraus der Nordwestdeutsche (NWDR) und im Januar 1956 der Norddeutsche Rundfunk (NDR).