„Ich mache mir Sorgen um Hamburg – bin aber keine Greta Thunberg!”
Kuhmist so weit das Auge reicht, bäuerlicher Klatsch und Tratsch und viel, sehr viel Wasser: Es fällt so manchen schwer, über Flachwitze und Vorurteile hinwegzusehen, wenn es um Ostfriesland geht. Schon als Kind bekam Sylvie Gühmann die volle Ladung Dorfleben-Klischees ab. Doch die Wahl-Hamburgerin nimmt es mit Humor – und dreht den Spieß um. Die MOPO sprach mit der 27-Jährigen über alte und neue Heimat, Klimawandel und Krieg.
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Kuhmist so weit das Auge reicht, bäuerlicher Klatsch und Tratsch und viel, sehr viel Wasser: Es fällt so manchen schwer, über Flachwitze und Vorurteile hinwegzusehen, wenn es um Ostfriesland geht. Schon als Kind bekam Sylvie Gühmann die volle Ladung Dorfleben-Klischees ab. Doch die Wahl-Hamburgerin nimmt es mit Humor – und dreht sogar den Spieß um. Ihr Buch „Die junge Frau und das Meer“ wirft über die Hemingway-Anspielung hinaus wichtige Fragen auf. Die MOPO sprach mit der 27-Jährigen über alte und neue Heimat, Klimawandel und Krieg.
Mit Mitte zwanzig eine Autobiographie schreiben: Wie kamen Sie dazu?
Sylvie Gühmann: Der Grund war die Demenz-Erkrankung meiner Großmutter. Ich stand im Pflegeheim mit Milchzähnen im Mund und mehr Wörtern im Kopf als meine Oma und sah, wie sie rückwärts lebte in diesem Raum ohne Zeit. Mir ist bewusst geworden, dass in meinen Genen vielleicht auch eine tickende Zeitbombe ist. Wenn meine Erinnerungen zu Staub zerfallen, dann wollte ich sie aufgeschrieben haben.
Sie werfen einen humorvollen, aber auch kritischen Blick auf Ostfriesland. Was macht das Leben dort aus?
Wenn irgendjemandem was passiert, dann weiß das auch der Goldfisch deiner Großmutter fünf Generationen später! (lacht) Wir haben unfassbar viele Traditionen, die am Leben gehalten werden, etwa die Teezeremonie, die Immaterielles Kulturerbe ist. Und die Natur spielt die Hauptrolle: Wind, Weite, Entschleunigung, Watt, Gezeiten, Ebbe und Flut.
Und wie gehen Sie mit Ostfriesenwitzen um?
Mit Humor. Sie sind für uns das Marketing-Phänomen des Jahrhunderts gewesen. Denn früher kannte uns keine Sau. Dadurch hat Ostfriesland einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, das ist doch etwas Schönes. Man sollte uns dennoch nicht unterschätzen, wir sind nämlich keine schlichten Deichbewohner!
Erzählen Sie uns bitte auch einen Witz …
Warum streuen Ostfriesen Pfeffer auf den Bildschirm? Damit das Bild schärfer wird!
Vom Dorf in die Großstadt, Sie wohnen jetzt in Eimsbüttel. Was ist anders in Hamburg?
In Hamburg verschluckt der lichtverschmutzte Himmel die Sterne – leider. Aber Hamburg ist anonymer, wenn ich verschlafen beim Bäcker stehe, interessiert es keinen, und das schätze ich sehr. Die Stadt ist wie Ostfriesland in groß, sie liegt direkt am Wasser. Der Wind, die Fischbrötchen, der Hafen sind da – Heimatgefühl. Außerdem kenne ich viele Ostfriesen hier.
Will man mit 27 Jahren überhaupt zurück aufs Land?
Nein, Hamburg gefällt mir im Moment ganz gut. Ich bin in einer Phase, wo der Ernst des Lebens mich noch nicht komplett als Schlag auf den Kopf getroffen hat, ich habe auch noch keinen Einkaufskorb mit floralem Muster … Trotzdem ist Ostfriesland ein Anker, den ich immer wieder suche, um den Kopf freizubekommen.
Wieso fängt ein Buch über Ostfriesland in Venedig an?
Irgendwann während einer unserer Familienurlaube ist ein gewisses Bewusstsein für den Klimawandel entstanden. Sinnbildlich, dass es aus der Ferne immer näher gerückt ist. Es gibt viele Parallelen zwischen der venezianischen Lagune und Norddeutschland.
Ein Leben am Wasser. Ein Element, das sich immer stärker verändert. Machen Sie sich Sorgen?
Ich mache mir Sorgen um Ostfriesland – und um Hamburg. Deiche werden immer höher gebaut, man braucht immer größere Pumpen. Wie eine riesige Badewanne, in der täglich der Stöpsel gezogen werden muss, damit wir nicht Land unter haben. Flüsse werden begradigt, Ökosysteme aus den Angeln gehoben, damit gigantische Pötte dadurch gequetscht werden können, das ist absurd. Ein Riesenspektakel, klar, aber was richtet das eigentlich an? Tornados haben wir mittlerweile auch.
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Was macht Sie wütend?
Wir reden alle über den Klimawandel, aber irgendwie tut niemand was. Ich will mich da nicht rausnehmen, ich bin keine ostfriesische Greta Thunberg! Ich mache auch Klima-Fehler. Wir müssen uns alle anstrengen, bessere Entscheidungen zu treffen. Es ist ein schmaler Grat und ein Balanceakt, Wirtschaft und Klima in Einklang zu bringen – durch Innovation, ausgeklügelte Technik, erneuerbare Energien. Ernster könnte die Lage nicht sein. Es geht um Leben und Tod.
Was machen Sie persönlich für das Klima?
Dieses Buch wird zum Beispiel klimaneutral produziert. Auch wird ein Projekt gefördert, bei dem das Meer von Plastikmüll befreit wird. Ich unterstütze Secondhand- und nachhaltige Labels, das ist mein Mikrokosmos. Ich sage nicht, dass ich damit die Welt verändere, aber ich tue etwas dafür. Die Einnahmen meiner ersten Lesung habe ich Fridays for Future gespendet.
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Sie erzählen auch, wie das Wasser das Leben Ihres Großvaters in Kiew während des Krieges rettete. Wie erleben Sie die aktuelle Lage in Ost-Europa?
Es ist grausam. Ich bin dankbar, dass mein Opa das nicht erleben muss, das hätte ihn zerrissen. Er hat nächtelang durchgeschrien, weil die Erinnerungen vom Krieg hochgekommen sind. Jetzt ist das Thema aktueller denn je und zeigt, dass dieses Buch nicht nur für Ostfriesland entscheidend ist, sondern es um alles geht, worum es im Leben geht: Verlust, Krankheit, Lachen, Liebe, Hoffnung. Damit kann sich jeder identifizieren, deshalb schreibe ich Bücher.