Kommentar: Rot nur bei Knochenbrüchen? Die Schiris schaffen sich neue Probleme
Die Problematik ist so alt, dass der Bart bis zu den Brustwarzen reicht und in Ehren ergraut ist. Schon vor einigen Jahren, als der Videoreferee noch ein Hirngespinst war, beschrieb ein damaliger Sportdirektor eines Erstligisten mir gegenüber die Dissonanzen mit dem Schiedsrichterwesen mehr oder minder im Wortlaut folgendermaßen: „Da wird dir bei den Schulungen ein Video gezeigt, und alle, die im Raum sitzen, sagen: klares Foul. Und dann steht da vorne einer und erklärt, warum es kein Foul ist.“ Man kann nicht zwingend behaupten, dass sich die Beziehung seit Einführung des VAR nachhaltig verbessert hätte. Warum das so ist, war am Samstagabend am Millerntor einmal mehr offensichtlich.
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Die Problematik ist so alt, dass der Bart bis zu den Brustwarzen reicht und in Ehren ergraut ist. Schon vor einigen Jahren, als der Videoreferee noch ein Hirngespinst war, beschrieb ein damaliger Sportdirektor eines Erstligisten mir gegenüber die Dissonanzen mit dem Schiedsrichterwesen mehr oder minder im Wortlaut folgendermaßen: „Da wird dir bei den Schulungen ein Video gezeigt, und alle, die im Raum sitzen, sagen: klares Foul. Und dann steht da vorne einer und erklärt, warum es kein Foul ist.“ Man kann nicht zwingend behaupten, dass sich die Beziehung seit Einführung des VAR nachhaltig verbessert hätte. Warum das so ist, war am Samstagabend am Millerntor einmal mehr offensichtlich.
Die Rücksichtslosigkeit von Heidenheims Andreas Geipl beim brutalen Einsteigen gegen St. Paulis Manolis Saliakas vor der Gegengerade war sogar von der weit entfernten Haupttribüne aus deutlich zu erkennen. Als die Szene in der Pause im Medienraum wiederholt wurde, ging ein lautes Raunen durch die Reihen. Klare Rote Karte! Sagten alle. Sagten neutrale Beobachter, sagten die St. Paulianer, sagten sogar Heidenheimer Mitspieler und Trainer Frank Schmidt. Schiri Sven Waschitzki-Günther sagte das nicht. Er zeigte Gelb, und laut St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann habe er dies in der Halbzeit ihm gegenüber „mit guten Worten“ erklärt.
Offenbar rechtfertigen nur Knochenbrüche einen Platzverweis
Nun wird aus einem Haufen Hundekot keine Schwarzwälder Kirschtorte, nur weil jemand ein Häubchen Sahne draufgesprüht hat. „Wenn er ihn über dem Knöchel trifft, dann ist es Rot“, gab Bornemann die Erklärung Waschitzki-Günthers wieder. Oder anders formuliert: Gäbe es heute oder morgen Fotos von einem frisch am gebrochenen Sprunggelenk operierten Saliakas aus dem Krankenhaus, hätte Heidenheim ab der 22. Minute in Unterzahl gespielt.
Eindrucksvoller kann man Realitätsferne kaum unter Beweis stellen. Zumal noch weit vor den zuletzt ausufernden Irrungen und Wirrungen um strafbares Handspiel die oberste Prämisse der Referees lauten muss, die Gesundheit der Spieler zu schützen. Ein Fakt, den am Samstag auch Harm Osmers höflichst ignorierte, als er Kölns Ondrej Duda nach dessen Grätsche von hinten und in Kniehöhe gegen Dortmunds Salih Öczan nur Gelb statt Rot gezeigt hatte und das mit einem Satz begründete, der klarmachte, dass man sich alle weiteren Fragen schenken kann: „Er führt den Tritt nicht mit der letzten Heftigkeit oder Brutalität aus.“ Da muss man erst mal drauf kommen.
Sogar St. Pauli-Coach Timo Schultz hat den Glauben verloren
Gäbe es in der Zunft der Unparteiischen so etwas wie taugliche Selbstreflexion, hätte es spätestens nach der krachenden Watschn von Freiburgs Coach Christian Streich im Anschluss an das eindeutig irreguläre Tor zum 3:1 von Borussia Dortmund beim SC vor einigen Wochen eine Reaktion gegeben. Streich hatte sich völlig zurecht und in der Begründung mehr als schlüssig darüber echauffiert, wie VAR-Chef Dr. Jochen Drees versucht hatte, den regelwidrig erzielten Treffer noch irgendwie ins Regelkonforme zu schwurbeln. Inzwischen haben die Unparteiischen mit ihrem teils sportfremden Handeln und Argumentieren nicht nur den allseits geschätzten Streich verloren, nun verweigert ihnen auch noch Timo Schultz die Gefolgschaft. St. Paulis Coach ist Sohn eines Schiedsrichter-Lehrwarts und von daher über Gebühr loyal und verständnisvoll in der Sache. Nach dem Heidenheim-Spiel aber gab er zu, dass es selbst ihm jetzt reiche.
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Zumal die Herrschaften in der überwiegenden Zahl nicht nur nicht willens sind, Fehler zuzugeben, sondern auch noch trotzig wie ein Kleinkind reagieren, wenn man ihnen diese anlastet. Saliakas selbst hatte beim Pokalspiel gegen Straelen eine völlig überzogene Rote Karte gesehen, ebenso Schalkes Dominick Drexler in Köln. Das DFB-Sportgericht aber urteilte nach dem „Uns doch egal, was der Rest der Welt denkt“-Gusto und sperrte beide Akteure in erster Instanz für je zwei Spiele, was mehr als das Mindestmaß war und die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen nach außen hin unterstreichen sollte.
Konsequenzen für schlechte Schiri-Leistungen? Fehlanzeige!
Man kommt um diese Feststellung kommt man gar nicht herum, dass alles am Ende etwas mit der Qualität der Schiedsrichter zu tun haben muss. Im „Kicker“-Interview hatte Schiri-Boss Lutz-Michael Fröhlich vor wenigen Tagen noch betont, welch tragende Rolle der Leistungsgedanke angeblich innehabe. Wie das aussieht, weiß man seit diesem Wochenende auch. Felix Zwayer hat in dieser noch jungen Saison bereits einen das Regelwerk konterkarierenden Handelfmeter gegen St. Pauli in Hannover gegeben, dem HSV gegen Nürnberg einen glasklaren Strafstoß nach Foul an Robert Glatzel verweigert und zuletzt bei St. Paulis Niederlage in Regensburg als VAR unberechtigterweise eingegriffen, was einen Elfer für den Jahn nach sich zog. Eine beeindruckend desaströse Bilanz nach nur zehn Spieltagen. Die Konsequenz: Zwayer pfiff am Samstag das Erstliga-Spiel zwischen Wolfsburg und Stuttgart…
Die Profi-Schiedsrichterei ist eine separate Spezies
Mit jedem neuen Spieltag manifestiert sich der Eindruck, dass sich die Schiri-Zunft auf Profi-Ebene immer weiter vom Sport und von den Sportlern entfernt, ihr Ding ohne den zwingend notwendigen Willen zum Dialog mit der aktiven Seite durchzieht, eine separate Spezies wird. Oder schon ist. Was wiederum dazu führt, dass man ungerecht wird in der Beurteilung und den Grundsatz, dass Menschen Fehler machen, beiseitelässt. Aber wenn einem das Gefühl vermittelt wird, dass ja eigentlich auch gar keine Fehler gemacht werden, dann darf sich darüber auch niemand wundern.