Penis-Kanone, Kannibalen, kotzende Puppen: Rammsteins Gaga-Musical in Hamburg
Till Lindemann dirigiert seine Menge. Macht wahnwitzige Baller-Bewegungen. Haut sich auf die Schenkel. Schüttelt den Kopf. Streckt die Zunge raus. Dreht der Rammstein-Frontmann gleich komplett durch? Jedenfalls ist das, was die Band an diesem Abend im Volksparkstadion durchzieht, kein Konzert mehr – es ist ein Gaga-Hardcore-Musical.
Was für ein irrer Abend! Lindemann lässt seine Brust mit Funken beregnen, er schießt „Sperma“ aus einer Penis-Kanone, flambiert als Metzger seine Band-Mitglieder in einem Kochtopf – und das Publikum steht mit ihm Kopf.
- Deutsch (Deutschland)
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Bumm! Mit dem ersten Schlag auf die Drums gibt’s eine heiße Explosion und ca. 50.000 Menschen – darunter Metal-Typen mit Kutten, aber auch Polohemden-Träger, Hipster, Pärchen und ganze Familien – wissen am Dienstagabend im Hamburger Volksparkstadion: Unser Abend mit Rammstein geht los!
Und was ist mit mir? Ich frage mich, wo ich hier eigentlich gelandet bin. Ich stehe nämlich in der „Feuerzone“ direkt vor der Bühne und habe Schiss. Denn vorab wurde von Kolleg:innen gemunkelt, die Lautstärke und Explosionshitze könnten zu körperlichen Schmerzen führen. Aber hey, alles halb so wild, mit Ohrstöpseln geht’s mir gut und die Hitze wärmt schön.
Till Lindemann in Soldaten-The-Joker-Optik
Zum ersten Song „Armee der Tristen“ vom neuen Album „Zeit“ fordert Till Lindemann (59) mit seinen Mannen „Komm zu uns und reih dich ein, wir woll’n zusammen traurig sein!“ Aber niemand ist es. Entzückung herrscht vor. Über Lindemanns Soldaten-The-Joker-Optik. Über Christian „Flake“ Lorenz‘ goldenen Pailetten-Anzug und seinen stetigen Walk auf dem Laufband. Und natürlich über die Metallbühne, die etwas von „Metropolis“-Filmkulisse hat und dessen höchste Spitze sogar über das Stadiondach hinausreicht.
- Fabian Lippke
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Die Band arbeitet sich von Song zu Song und Lindemann dirigiert seine Menge. Macht wahnwitzige Baller-Bewegungen. Haut sich auf die Schenkel. Schüttelt den Kopf. Streckt die Zunge raus. Und ja, bei „Mein Herz brennt“, da brennt es tatsächlich und ein roter Funkenregen ergießt sich aus einer Röhre auf seine Brust. Zu „Puppe“ holt er einen riesigen metallischen Kinderwagen hervor, in dem er eine ekelhafte Monsterpuppe erst in Brand setzt, damit diese dann am Ende Konfetti kotzt. Außerdem mutiert Lindemann zum Metzger-Kannibalen und flambiert Flake bei „Mein Teil“ im Riesenkochtopf.
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Meine bisherigen Live-Berührungspunkte mit Rammstein sind nur halb echt: Schon als Teenie hörte ich die Live-Version von „Seemann“ gern, feierte später ihren Pariser Konzert-Film und bekam Gänsehaut bei ihrer „Du hast“-Performance in der Wacken-Doku, wo das komplette Publikum unisono mitschrie. So stark sind meine Gefühle beim echten Live-Konzert noch nicht: Durch die Puppe und den Kochtopf fühle ich mich eher wie eine Zuschauerin in einem Gaga-Hardcore-Musical.
Der Song „Deutschland“ wird dann zunächst als Rave inszeniert, bei dem Richard Kruspe in Elvis-Look als DJ über den anderen Bandmitgliedern thront. Diese tragen schwarze Overalls mit leuchtenden LED-Streifen und vollführen eine Choreo mit Körperwelle. Hat irgendwie was von Kraftwerk und Deichkind.
Natürlich ist auch die Penis-Kanone dabei
Danach geht’s steil bergauf mit dem Rammstein-Musical: Bei „Du hast“ ist der unfassbare Unisono-Moment wieder da und obendrauf gibt’s Glitzer-Fontänen und Raketen, die durchs ganze Stadion fliegen. Zu „Sonne“ werden runde Rauchzeichen erzeugt, die in der Abenddämmerung übers Stadion fliegen. Und bei „Engel“ wechselt die Band samt des Piano-Duos Játékok auf die kleine Bühne im Innenraum, um eine ruhige Variante des Songs zu performen, zu dem alle Leute ihre Handy-Taschenlampen zücken. Nachdem die Band dann auf Schlauchbooten zurück auf die Hauptbühne befördert wurde, wird zu „Pussy“ eine Penis-Kanone hervorgeholt, auf dessen Sattel sich natürlich Till Lindemann himself setzt und Schaum-Konfetti-Sperma abfeuert. Jemand im Publikum sagt: „Einmal die Penis-Kanone aus nächster Nähe erlebt – dafür hat sich die Ticketinvestition doch gelohnt. Schade, dass mich das Sperma gar nicht getroffen hat!“
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Darüber muss ich sehr lachen – und bin damit wohl vollends angekommen in Rammsteins Live-Universum. Diese Band vereint eben so viel in sich: Extreme, Radikalität, Provokation. Musical, Ballermann, Festival. Urinstinkt, Rohheit, Absurditäten. Da ist einfach für jeden etwas dabei. Und deswegen wird diese Band noch lange weiterstrahlen – mit Weltbekanntheit und ausverkauften Riesenshows (heute Abend folgt in Hamburg die nächste). Vielleicht strahlt genau deswegen beim Nachhausegehen auch ein riesiges Laserlicht aus dem Stadiondach hinaus. Man sieht es in ganz Stellingen und vielleicht noch weiter. Denn nichts ist für Rammstein genug.