Tool in Hamburg: Orgasmus für Rhythmus-Nerds
Wichtige Fußballspiele und Tool-Konzerte schaue ich nur mit ausgewählten Menschen. Es braucht den nötigen Ernst. Stehvermögen. Und vor allem das fein austarierte Maß an Kauzigkeit. Die kalifornischen Metal-Nerds veröffentlichen Alben im Abstand von Dekaden, verhindern jedes Tanzen durch mathematisch konstruierte Besserwisser-Beats, nehmen neuerdings 140 Euro für ein Konzert-Ticket – und ich bin ihnen hoffnungslos verfallen. Am Donnerstagabend waren sie in der Barclays Arena und es war ein Fest.
Alles auf und um die Bühne rot und lila und 3D. Lava, Blut, Apfelmännchen. Kennen Sie das? Die Mandelbrot-Menge? „Die Menge der komplexen Zahlen c“, laut Wikipedia, und, ganz ehrlich, ich bin da raus, und verstehe das nicht. Aber ich weiß, dass schon in der PC-Frühphase Computer daraus allerhand bunte Formen errechnen konnten, für die sich auch Mathematik-scheue Kiffer erwärmen konnten.
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Wichtige Fußballspiele und Tool-Konzerte schaue ich nur mit ausgewählten Menschen. Es braucht den nötigen Ernst. Stehvermögen. Und vor allem das fein austarierte Maß an Kauzigkeit. Die kalifornischen Metal-Nerds veröffentlichen Alben im Abstand von Dekaden, verhindern jedes Tanzen durch mathematisch konstruierte Besserwisser-Beats, nehmen neuerdings 140 Euro für ein Konzert-Ticket – und ich bin ihnen hoffnungslos verfallen. Am Donnerstagabend waren sie in der Barclays Arena und es war ein Fest.
Alles auf und um die Bühne rot und lila und 3D. Lava, Blut, Apfelmännchen. Kennen Sie das? Die Mandelbrot-Menge? „Die Menge der komplexen Zahlen c“, laut Wikipedia, und, ganz ehrlich, ich bin da raus, und verstehe das nicht. Aber ich weiß, dass schon in der PC-Frühphase Computer daraus allerhand bunte Formen errechnen konnten, für die sich auch Mathematik-scheue Kiffer erwärmen konnten.
Tool: Seit 30 Jahren sehr komplexe Rhythmus-Strukturen
Sowas passt zu den vier Typen, die seit mehr als 30 Jahren Tool sind. Sie stehen hinter einer Art transparentem Vorhang. Projektionen in mehreren Ebenen schaffen gewaltig große 3D-Muster. Und es macht den Auftakt „Fear Inoculum“, gut zehn Minuten langer Titeltrack des aktuellen Albums. Sehr lang, sehr komplexe Rhythmus-Strukturen. Perkussives Geklöppel wie von einem Oktopus gespielt. Was das alles bedeutet? Nun, sehr sicher etwas kompliziertes.
Als klar war, dass Tool endlich wieder nach Hamburg kommen, fragte ich meine Frau aus Spaß, ob sie nicht mit mir hin gehen will. Das Entsetzen: groß. Auf eine Frau bei einem Tool-Konzert kommen zehn Männer. Meist Mitte 40. So ist auch das Verhältnis heute Abend in der bestuhlten und vollen Arena. 10.000 mögen es sein.
Wichtig: Bei Tool-Konzerten tanzt man nicht!
Eine frühe Tool-Erinnerung von mir ist ein Mann in Cowboy-Stiefeln, der mir in der Großen Freiheit vor Jahrzehnten die Sicht versperrte und versuchte zur Musik zu tanzen. Absurd. Zu Tool lässt sich im besten Fall weise mit dem Kopf nicken. Ein paar Takte lässig, bis einen der nächste perfide gesetzte rhythmische Haken aus der Bahn wirft. Heute tanzt kaum jemand. Profis. Dafür fotografiert mein Vordermann trotzig, obwohl das doch verboten ist, und der Ordner schon mehrfach geschimpft und mit Rauswurf gedroht hat. Tool machen die Dinge gern anders als andere. Und sie mögen nicht ständig gefilmt werden. Volle Hütte, keine Handys in der Luft. Es fühlt sich fast schon unwirklich nostalgisch an.
Tool machen sehr düstere Musik mit sehr vielen verschiedenen Abschnitten. Die eine (!) Gitarre episch und dunkel wabernd. Der Bass metallisch grollend. Der Gesang im permanenten Aufbegehren gegen die übermächtig gemischten Instrumente. Und all das klingt so klar und richtig und mächtig und vielschichtig und gleichzeitig psychedelisch heute Abend, dass es eine Freude ist.
Tool – ein Konzert für Mittvierziger: „Seid ihr müde?“
„Sober“ kommt, das war der erste große Hit, 1993. Da ließ sich noch vergleichsweise unbeschwert schwofen. Dann: „The Pot“, „Pushit“.
„Seid ihr müde?“, fragt Maynard James Keenan, der sonst oft auch gar nicht mit dem Publikum redet. „Ich bin 58 und stehe. Das kriegt ihr auch hin!“
Keenan ist Sänger, Musikproduzent, Schauspieler und Winzer, wie es auf Wikipedia richtig heißt. Vor allem ist Keenan wie seine drei Kollegen ein kompromisslos geschmäcklerischer Perfektionist. Alle vier in perfekter klanglicher und optischer Transparenz aufgereiht in diesem mal schwer rollenden, mal ätherisch klackernden Song-Konstrukten. Und so perfekt eingepasst in diese Bühne mit den monströsen Projektionen, dass man ihr außergewöhnlich versiertes Handwerk trotzdem jederzeit im Detail nachvollziehen kann.
Tool in Hamburg: Unvergleichlich, kauzig, präzise
Danny Carey, Schlagzeuger, stets in ein Basketball-Jersey gewandet. Ganz offiziell Drum-God, vielarmige Maschine, Atom-Uhr, hält all das jederzeit zusammen. All das Dynamik-auf-und-ab. „Right In Two“, „Descending“ und – erfrischend brutal und unverkünstelt „Hooker With A Penis“.
Da geht’s im Text um den Vorwurf „Sell-out“ zu betreiben, also sich und seine Werte und seine Kunst zu verkaufen. Der Song ist die wütende akustische Dresche für den Kritiker und er klingelt mir im Ohr, als ich am Merchandise-Stand handsignierte Vinyl-Boxen für 700 Euro bestaune und – uncooler wird es nicht – Programmhefte, unterschrieben von der Band, für ebenfalls hunderte Euro. Das könnte alles unglaublich käsig sein, und vielleicht ist es das auch. Aber, ich habe von Anfang an mit offenen Karten gespielt: Ich bin dieser Band hoffnungslos verfallen. Da ist nix mit journalistischer Distanz.
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„Fuck you, Buddy!“, schreit Maynard. Recht hat er. Es ist Kunst. Unvergleichlich. Kauzig. Präzise. Ein Spektakel. Ich will das eigentlich nicht schreiben, aber: Jeden Cent wert.