Wieso Mareike (44) genau den Job macht, den sie nie wollte
Manchmal sieht man sie über den Kiez schlendern: die Frauen in den roten Jacken mit der weißen Aufschrift. Aus der Ferne könnte man meinen, sie unterhalten sich bloß. Aus der Nähe wird schnell klar: Sie beten. Hier ein „Oh Gott“, da ein „Amen“. Ganz schön schräg. Das fand auch Mareike Walz anfangs. Mittlerweile gehört es zu ihrem Alltag. Die 44-Jährige ist Kapitänin der Heilsarmee an der Talstraße. Dabei war es genau das, was sie nie wollte.
Eigentlich war es Mareikes Traum, Sängerin oder Schauspielerin zu werden. Allerdings in einem Alter, in dem das nahezu alle Mädchen wollten. Ganz egal welcher Beruf es nun werden würde, für Mareike stand fest: auf keinen Fall die Heilsarmee. Sie und ihre fünf Geschwister sind in der evangelischen Freikirche, die sich selber als „friedlichste Armee der Welt“ bezeichnet, aufgewachsen. Schon im Kinderwagen hatte sie die Gottesdienste besucht. „Meine Eltern waren beide beruflich bei der Heilsarmee. Ich sah, wie viel Arbeit das ist, und wollte nicht sechs Tage die Woche arbeiten.“ So wurde Mareike Erzieherin.
Talstraße St. Pauli: So kam Mareike Walz zur Heilsarmee
- Deutsch (Deutschland)
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Manchmal sieht man sie über den Kiez schlendern: die Frauen in den roten Jacken mit der weißen Aufschrift. Aus der Ferne könnte man meinen, sie unterhalten sich bloß. Aus der Nähe wird schnell klar: Sie beten. Hier ein „Oh Gott“, da ein „Amen“. Ganz schön schräg. Das fand auch Mareike Walz anfangs. Mittlerweile gehört es zu ihrem Alltag. Die 44-Jährige ist Kapitänin der Heilsarmee an der Talstraße. Dabei war es genau das, was sie nie wollte.
Eigentlich war es Mareikes Traum, Sängerin oder Schauspielerin zu werden. Allerdings in einem Alter, in dem das nahezu alle Mädchen wollten. Ganz egal welcher Beruf es nun werden würde, für Mareike stand fest: auf keinen Fall die Heilsarmee. Sie und ihre fünf Geschwister sind in der evangelischen Freikirche, die sich selber als „friedlichste Armee der Welt“ bezeichnet, aufgewachsen. Schon im Kinderwagen hatte sie die Gottesdienste besucht. „Meine Eltern waren beide beruflich bei der Heilsarmee. Ich sah, wie viel Arbeit das ist, und wollte nicht sechs Tage die Woche arbeiten.“ So wurde Mareike Erzieherin.
Talstraße St. Pauli: So kam Mareike Walz zur Heilsarmee
Ein Wochenende in Hamburg veränderte alles. Sie besuchte gemeinsam mit einer Freundin ihren Bruder. Als sie nachts im Wohnzimmer schliefen, gab es ein heftiges Gewitter. In der Nähe schlug ein Blitz ein. Ihre Freundin, die regelmäßig unzusammenhängendes Zeug im Schlaf redete, sagte ganz deutlich: „Das war die Stimme deines Herrn.“ Mareike konnte es nicht fassen. Sie hatte immer gesagt, sie müsse der Blitz treffen, um für die Heilsarmee zu arbeiten. Ihre Freundin erinnerte sich am nächsten Morgen an nichts mehr. Sie konnte sich nicht vorstellen, überhaupt so etwas gesagt zu haben. Für Mareike der entscheidende Moment. „Ich kann das nicht erklären und finde es heute noch total verrückt. Aber das muss Gott gewesen sein.“
Erst sieben Jahre später, vor 13 Jahren, folgte sie der Stimme. Nach einem Praktikum in der Gemeinde stieg sie bei der Heilsarmee ein. Und legte ein Gelübde ab: keinen Alkohol, keine Drogen, keine Zigaretten, keine Pornografie. „Wir enthalten uns allem, was abhängig macht. Damit zeigen wir uns solidarisch mit all den Suchtkranken, die es geschafft haben.“ Zu verzichten fällt Mareike nicht schwer. Obwohl sie schon gerne wüsste, wie Baileys schmeckt. Den hat sie noch nie probiert, obwohl sie früher ab und an Alkohol trank. Keine Schokolade und Kaffee – das würde Mareike schwerfallen. „Auf alles andere kann ich verzichten.“
Viel wichtiger ist für sie, ihren Glauben zu leben. „Und auf St. Pauli zu sein“, sagt die Frau, die heute den Dienstgrad der Kapitänin hat. Das wird man automatisch. „Eine reine Alterserscheinung.“ Mit Leutnantin fängt es an. Nach fünf Jahren wird man Kapitänin, nach 15 Majorin. Für Mareike ist ihr Glauben der Motor. „Aber es reicht uns nicht, nur unser eigenes Süppchen zu kochen. Wir setzen das um, was wir in der Bibel lesen. Und leben, was Jesus gesagt hat.“
Sanierung: Heilsarmee-Haus in der Talstraße verändert sich
Mittelpunkt ist das 1895 erbaute Haus an der Talstraße. Seit 100 Jahren Sitz der Heilsarmee. Neben Mareike gibt es eine weitere Leiterin, einen Sozialarbeiter, eine Hauswirtschafterin und ein Jahresteam bestehend aus jungen Leuten, die ihren Bundesfreiwilligendienst, ein Freiwilliges Soziales Jahr oder Praktikum machen. Alles gläubige Menschen – „der eine mehr, der andere weniger“.
Seit drei Jahren wird das fünfstöckige Gebäude saniert. Geplant war das nicht. „Bei einem solchen Haus entdeckt man immer was Neues. Auch einige Schätzchen.“ Wie die historische Kassettendecke im großen Saal. Die alten Kacheln im Eingangsbereich. Oder den vermoderten Truhendeckel, den die Bauarbeiter im Keller ausbuddelten. Im Untergeschoss und Erdgeschoss entsteht der „Heimathafen Heilsarmee“. Mit Café, Duschen, Kleiderkammer, Platz für Sozialberatung und Seelsorge und einem Raum der Stille. Im ersten Stock sind Büroräume. Darüber werden 14 Wohnungen entstehen. Davon elf sozial gefördert, die bereits vergeben sind.
Wann die Sanierung abgeschlossen ist, weiß Mareike nicht. Sie hofft bald. In ein paar Wochen. Zumindest die Essensausgabe kann schon wieder in dem Haus stattfinden. Dienstags liefert die Tafel Lebensmittel. „Anfangs haben wir aus einem Auto an der Schmuckstraße 20 Tüten ausgegeben. Es wurden schnell 50, dann 100.“ Von Senioren über Obdachlose bis hin zu Familien – sie alle brauchen Hilfe. Immer wieder hört Mareike insbesondere von Müttern den Satz: „Ich hätte nie geglaubt, dass wir das mal nötig haben.“
Mit Leid ist die Kapitänin häufig konfrontiert. Manche wissen nicht, wie sie ihr nächstes Brot bezahlen sollen. Andere haben ihre Wohnung verloren oder massive Schulden. Durch was für ein Leid manche Menschen gehen müssen, verstehe auch sie nicht. „Ich komme manchmal an meine Grenzen und habe nicht auf alles eine Antwort. Und trotzdem erlebe ich, dass Gott in solch zerbrechlichen Situationen da ist und Frieden schenken kann.“ Nach Hause gehen und abschalten – das gelingt ihr nicht immer. Es gibt Schicksale, die Mareike noch lange Zeit begleiten.
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Einen Mann kann sie seit Jahren nicht vergessen. Über 70, gehbehindert, seit Jahren obdachlos. Der Versuch, ihn von der Straße zu holen, scheiterte. Er wollte und konnte es nicht. Abends sah Mareike ihn häufig auf dem Heimweg beim Flaschensammeln. „Ich wusste, ich gehe gleich in mein Bett und er mit seinen über 70 Jahren wird irgendwo auf der Straße schlafen. Da hat mein Herz geblutet.“
So geht Mareike Walz mit schweren Schicksalen um
Das passiert ihr ab und an auch mit anderen Schicksalen. Dann setzt sich die alleinstehende Frau in ihrer Wohnung in Groß Borstel in den Oma-Sessel, schaut raus und redet mit Gott. „Das tut mir gut, um mit den Dingen umzugehen, die mir begegnen.“ Intensiv mit Gott sprechen musste sie auch vor ihrem ersten Einsatz im Bordell. Mareike und Frauen aus anderen Kirchengemeinden gehen als mobiles Seelsorgeteam einmal die Woche in Bordelle. Mit warmem Kakao, Süßigkeiten und Bibeln. „Am Anfang konnte ich mir gar nicht vorstellen, Kakao zu verteilen. Das ist so ein Kinderding“, sagt Mareike lachend. Vor ihrem ersten Besuch hatte sie Angst. Eigentlich war der Plan, sich hinter ihrer Kollegin zu verstecken. „Hat super funktioniert. Sie ist klein und zierlich und ich eben nicht.“ Die Angst verflog schnell. Die Prostituierten empfingen Mareike herzlich. „Ich hatte tolle Begegnungen mit wunderbaren Frauen. Eine bat mich, für sie zu beten. Das hat mich sehr gefreut.“ Manche Prostituierten holen sich bloß einen Kakao, andere offenbaren intimste Probleme – das rührt Mareike.
„Wir machen das ganz so, wie die Menschen es möchten. Wir wollen niemandem die christliche Botschaft aufdrängen.“ Mit manchen betet sie mitten auf dem Kiez, anderen reicht sie bloß ein Brötchen rüber. Dass die Arbeit der Heilsarmee nicht bei allen gut ankommt, kriegt Mareike häufiger zu spüren. Immer wieder wird sie damit konfrontiert, dass die Heilsarmee eine Sekte sei. Erst vor zwei Wochen wieder. Als sie Essen verteilte, brüllte ein Mann bloß „Sekte“ über die Straße. Mareike ärgerte sich darüber. Allerdings hielt der Mann inne und sagte: „Ach, die helfen ja.“ Das freute sie wiederum.
Wenn jemand „Sekte“ brüllt, weiß sie: Das kann kein Kiezianer sein. „Die würden so etwas nie sagen.“ Die Einheimischen rufen „Jesus lebt“ – was auf einem Schild an der Fassade des Hauses steht. Zwar vermutet Mareike, dass es als Verarsche gemeint ist, aber das stört sie nicht. „Ich finde es witzig und glaube, dass das nicht ohne Wirkung bleibt. Jeder Mensch kommt in Situationen, in denen er sich vielleicht an den Spruch erinnert und er einen Glaubensanstoß gibt.“
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Mareike weiß, dass die Heilsarmee irgendwie anders ist. „Wir sind schräg.“ Deshalb passen sie so gut auf den Kiez. „Das ist wie eine große Familie. Ich schätze diese Gemeinschaft, in der jeder akzeptiert wird.“ Weiterziehen – für die Frau, die seit drei Jahren auf St. Pauli arbeitet, momentan undenkbar. Dabei ist sie in ihrem Leben schon 14 Mal umgezogen und hat nie länger als fünf Jahre an einem Ort gelebt. Die Kapitänin hofft, dass der Kiez ihre Premiere wird.
Steckbrief Mareike Walz (44)
Spitzname und Bedeutung: Ich habe keinen Spitznamen. Mein Vater ist der Einzige, der mir welche geben darf. Das wechselt. Von Mariechen bis zu Jule.
Beruf/erlernte Berufe: Heilsarmee-Offizierin. Gelernte Erzieherin, studierte Theologin.
St. Pauli ist für mich … der beste Ort der Welt.
Mich nervt es tierisch, wenn … St. Pauli so typisch nach St. Pauli riecht.
Wenn mir einer blöd kommt, … reagiere ich unterschiedlich. Manchmal lache ich bloß, manchmal schüttele ich den Kopf oder ich sage was dazu.
Zum Abschalten … höre ich Musik und gehe gerne spazieren.
Als Kind … hatte ich meine vier kleinen Brüder gut unter Kontrolle.
Meine Eltern … sind ein spannendes Paar. Total unterschiedlich und passen trotzdem wunderbar zusammen.
Vom Typ her bin ich … anfangs introvertiert, später extrovertiert.