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  • Geflüchtete im Lager Lipa in Bosnien-Herzegowina.
  • Foto: picture alliance/dpa/AP

Arzt in Flüchtlingscamp: „Erfrorene Menschen kann man nicht mehr aufnehmen“

Velika Kladusa –

Er ist dort, wo alle wegwollen. Stephan Bethe (27) reiste wenige Tage nach dem Brand im Flüchtlingscamp Lipa nach Bosnien. Er arbeitet dort als Arzt der Hamburger NGO „Medical Volunteers International“ und hilft den Geflüchteten, die dort in eisiger Kälte sich selbst überlassen sind.

MOPO:Was genau ist Ihre Aufgabe vor Ort?

Stephan Bethe: Wir versorgen hier rund um die Stadt Velika Kladusa  an der Grenze zu Kroatien Menschen, die nicht in den Camps leben. Sie leben in sogenannten Squads, also Gruppen zusammen – in Abbruchhäusern, Wäldern oder auf Feldern in Zelten. 

Stephan Bethe

Stephan Bethe (27) erfährt vor Ort viel Leid, aber auch Dankbarkeit.

Foto:

privat/ Stephan Bethe

Können Sie frei arbeiten?

Da hier im Una-Sana-Kanton die Hilfe für Geflüchtete kriminalisiert wird, zumindest für ausländische NGOs, arbeiten wir nachts. Das heißt, wir fahren abends zu unterschiedlichen Orten, die wir schon kennen. Die haben alle Codenamen, die hier in der NGO-Szene bekannt sind.

Wie genau muss man sich das vorstellen?

Wir fahren die Orte an und gucken, ob es medizinische Probleme gibt. Die gibt es fast immer, weil die Menschen in desolaten Umständen leben. Wir haben auch einen Facebook-Account, über den uns Geflüchtete erreichen können. Wir empfangen so den ganzen Tag Nachrichten, notieren uns alles und versuchen, über den Tag Lösungen zu finden, damit wir die Menschen abends schnell behandeln können.

Wo finden die Treffen statt?

An einem neutralen Ort, wo man nicht beobachtet werden kann. Dort übergeben wir dann beispielsweise eine Creme oder schauen uns schnell an, was das Problem ist. Pro Nacht fahren wir ungefähr zu acht bis zehn Orten.

Und welche Verletzungen werden am häufigsten behandelt?

Tatsächlich solche, die mit schlechten Hygienebedingungen zusammenhängen. Krätze, Läuse, das gibt es ziemlich oft. Wir haben aber auch viele Verletzungen von illegalen „Pushbacks“, bei denen Menschen zurück über die Grenze getrieben werden – Frakturen von Schlägen, Knieverletzungen. Vorgestern habe ich einen jungen Mann mit einer Nasenfraktur behandelt. Der hat einen Schlagstock bei einem Pushback draufbekommen. Aber es gibt auch unter den verschiedenen Gruppen der Geflüchteten Konflikte wie Raub und körperliche Gewalt. Leider ist es häufig so, dass prekäre Situationen auf Kosten derjenigen gehen, denen es noch schlechter geht. Gestern habe ich eine Messerstichwunde bei einem Geflüchteten versorgt, der sein Handy nicht hergeben wollte.

Einsatz in Bosnien

Die „Medical Volunteers“ im nächtlichen Einsatz.

Foto:

privat/ Stephan Bethe

Was fehlt den Menschen vor Ort am meisten?

Es ist an vielem Bedarf, an materiellen Gütern und medizinischer Versorgung. Ich glaube, dass es aber auch an der Substanz zehren kann, wenn man das Gefühl hat, nicht anerkannt oder wahrgenommen zu werden. Und wenn doch, dann nur als Dorn im Auge. Als eine Gruppe Menschen, die man hier nicht will.

…Menschen, die unser friedliches Leben stören, unsere heile Welt ins Wanken bringen …

Genau. Und dieser Gruppe werden bestimmte Eigenschaften zugeordnet, die nicht stimmen. Diese Eigenschaften werden auf die einzelne Person übertragen, die geflüchtet ist und aufgrund dieser Merkmale diskriminiert wird.

Was hilft dagegen?

Meine Erfahrung ist, wenn sich einzelne Menschen gesehen fühlen in diesen unterschiedlichen desolaten Lebensbedingungen, hilft das enorm.

Wie verhalten sich die Geflüchteten Ihnen gegenüber?

Unfassbar dankbar. Wir als kleine medizinische NGO sind da in einer ziemlich dankbaren Position, weil wir mit medizinischer Hilfe kommen. Wenn wir die Schmerzen der Geflüchteten etwas lindern können, ist das natürlich eine tolle Situation.

Ihr Einsatz wird also wertgeschätzt.

Ja, es ist aber auch für mich eine großartige Arbeit. Ich mach es nicht dafür, dass mir große Dankbarkeit entgegengebracht wird – doch die bekomme ich. Ich erlebe aber auch große Resignation. Es gibt dort Menschen, die sind seit fünf Jahren unterwegs und wurden schon 17 Mal an der Grenze zurückgestoßen. Sie haben viele Ländergrenzen überquert und Menschen getroffen, die ihnen gesagt haben, dass sie helfen können. Dann haben die Geflüchteten sie nie wieder gesehen.

Was hat das bei den Geflüchteten ausgelöst?

Der wahrscheinlich meistgenutzte Begriff bei den Geflüchteten, wenn man ihnen hilft, ist: „Inschallah“ („So Gott will“). „Wenn Gott will, kommt ihr morgen wieder“ oder „Wenn Gott will, geht’s mir morgen besser“. Die Erfahrung hat die Geflüchteten gelehrt, dass viele Versprechen nicht gehalten werden.

Kommen Geflüchtete auch mit psychischen Leiden zu Ihnen?

Psychische Verletzungen sind natürlich die Nummer eins. Das betrifft eigentlich alle. Jeder Mensch würde in dieser Lebenssituation so psychisch belastet sein, dass da innere Verletzungen auftreten. Es gibt Orte, da komme ich rein und ich weiß, wenn ich da leben müsste, wäre ich völlig fertig. Ich finde es bewundernswert, mit was für einer inneren Stärke die Menschen hier die desolaten Zustände aushalten.

Was können Sie dagegen tun?

Solidarität zeigen – das ist auch ein Großteil unserer Arbeit. Zeigen, dass wir versuchen, sie zu sehen, da zu sein. Ansprechbar sein, wenn es medizinische Probleme gibt. Wir versuchen aber auch, andere Probleme so gut es geht zu lösen. Wenn bei einem Pushback zum Beispiel alle Sachen geklaut wurden, dann versuchen wir mit anderen NGOs zu organisieren, dass die Person wieder ein gebrauchtes Handy bekommt, um mit ihrer Familie Kontakt zu haben. Oder wenn jemand eine Verletzung hatte und das T-Shirt vollgeblutet ist, dann gucken wir, ob wir irgendwo noch ein T-Shirt im Auto haben.

Geben Sie auch Medikamente gegen psychische Leiden?

Wir halten uns mit starken Medikamenten zurück – selbst bei Schlafmitteln. Viele Menschen haben extreme Probleme mit dem Schlafen, wegen Tinnitus oder Panikattacken. Doch wir geben keine harten Beruhigungsmittel. Die Befürchtung ist zu groß, neue Probleme zu schaffen. Wir versuchen zu reden oder etwas Natürliches wie Baldrian zu geben.

Was wären das für Probleme, die Sie fürchten? Sucht?

Genau, dass Suchtprobleme unter den Geflüchteten entstehen. Wir wollen keine harten Beruhigungsmittel in Umlauf bringen.

Was für Hilfsangebote gibt es neben Ihrem? NGOs, die für Kleidung und Essen sorgen, oder?

Hier vor Ort in Kladusa gibt es Organisationen für Essen und Kleidung. Und auch extrem wichtig: für Öfen und Holz. Eine NGO, die sich darum kümmert, dass Menschen nicht erfrieren.

Gibt es ein Erlebnis oder eine Geschichte, die Sie besonders berührt hat?

Eine eigentlich dramatische Geschichte fällt mir da ein, die im Moment der Erzählung jedoch lustig war. Denn die Geflüchteten haben mir die Geschichte lustig erzählt, sie haben selbst total gelacht.

Wovon handelt diese Geschichte?

Die Erzähler haben versucht, über die kroatische Grenze zu kommen. Und ein Patient, den ich behandle, hat Hörprobleme. Sie haben mir von den Hörproblemen so erzählt, dass der Mann vorausgerannt ist, sie die Polizei gesehen und ihn gerufen haben. Er hat es aber nicht gehört und ist immer weitergerannt. So kam es zu einem Pushback aus Kroatien zurück nach Bosnien. Sie haben mich aufgefordert, dass ich unbedingt etwas mit seinen Ohren machen muss – damit er sie nächstes Mal hört.

Das hat eine gewisse Tragikomik. Gibt es noch so eine Geschichte?

Was mich sehr bewegt hat, ist ein junger Mann aus Kaschmir.18 Jahre alt, superfreundlich, wir haben uns sehr gut verstanden. Ich habe ihn gefragt, wie lange er unterwegs ist. Er meinte, seit fünf Jahren. Also seit er 13 Jahre alt ist. Er hat schon 14-mal versucht, über die Grenze zu kommen. Das hat mich bewegt.

Verstehe ich. Vor allem, wenn man überlegt, was wir selbst in der Zeit so getrieben haben.

Ja, genau. Das liegt dann nah, dass man an die eigenen Jahre von 13 bis 18 denkt. Und er hat in der Zeit schon so viel Gewalt erfahren.

Was macht Ihnen bei Ihrer Arbeit am meisten zu schaffen?

Man hat permanent das Gefühl, nur symptomatisch zu arbeiten. Natürlich versuche ich, nicht nur die Symptome zu lindern, sondern auch die Krankheit selber zu behandeln. Aber bezogen auf den ganzen Kontext ist einfach klar: Es gibt Lebensbedingungen, die machen krank – früher oder später.

Woran denken Sie dabei genau?

Es gibt hier zum Beispiel einen größeren Squad von Bangladeshis, die im Wald leben. Es ist kalt, matschig, es sind viele Leute, die Hygienebedingungen sind desolat. Wenn da jemand eine Durchfallerkrankung entwickelt, dann haben alle diese Erkrankung. Man kann niemanden isolieren. In solchen Bedingungen leben die Menschen seit einem halben Jahr. Das macht mir am meisten zu schaffen: Die wichtigste Behandlung wäre eine Veränderung der Lebensumstände.

Was müsste denn getan werden, um diesen Menschen zu helfen?

Sie müssten ohne Pushbacks in den Schengenraum dürfen, um dann in der EU ihren Asylantrag zu stellen. In meiner perfekten Welt gäbe es keine Grenzen – aber wenn Sie das schreiben, gibt es vermutlich einen Shitstorm.

Damit kann ich leben. Was erwarten Sie von Deutschland?

Ich finde, Deutschland sollte Menschen, die Schutz suchen, aufnehmen. Man kann einem schnell Naivität vorwerfen, klar, aber die Menschen hier brauchen einfach Hilfe. Und zwar schnell. Ich glaube, wir könnten ihnen diese geben, wir könnten ihnen Schutz bieten. Wir hätten die Kapazitäten. Aber Menschen, die erfroren sind, kann man nicht mehr aufnehmen …

Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?

Es gibt, auf Bosnien bezogen, zunehmend Menschen – auch in der EU – die sehen, was hier für eine Katastrophe passiert. Es sind viele kleinere NGOs vor Ort, die wichtige Hilfe leisten. Das ist gut. Was den Geflüchteten Hoffnung macht, kann ich nicht sagen. Aber ich kann mir zumindest vorstellen, dass das Gefühl, gesehen zu werden, Hoffnung auslöst. Doch durch ihre Fluchterfahrungen wissen sie, die Aufmerksamkeit der EU kann verschwinden – oder bleiben. Und deswegen: Inschallah.

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