• Foto: dpa

„Chaos und Schock“: Libanese erzählt: So dramatisch ist die Lage in Beirut

Beirut/Berlin –

Mohammed Hajjar (29) zog im September 2018 von Beirut nach Berlin, um seinen Masterabschluss zu machen – in seiner Heimat sah er keine Perspektive mehr. Die verheerenden Explosionen und ihre Folgen erschütterten ihn – und vor allem seine Freunde vor Ort – zutiefst. Im Gespräch mit der MOPO erzählte Hajjar von der dramatischen Situation in der zerstörten Stadt.

MOPO: Wie haben Sie von den Explosionen in Ihrer Heimat erfahren?

Mohammed Hajjar: Ich sah ein WhatsApp-Video der Explosion. Gleich darauf rief mich eine deutsche Freundin an und weinte: Sie hatte Angst und fragte sich besorgt, ob ihr Freund in Beirut in Sicherheit sei.

Viele Ihrer Freunde leben in Beirut. Wie schildern sie die Situation vor Ort?

Die schockierendste Geschichte war die meines besten Freundes. Er wohnt eine Straße vom Explosionsort am Hafen entfernt. Er war mit drei anderen Freunden in der Wohnung und aß gerade zu Abend. Plötzlich hörte er etwas, das wie ein Flugzeug klang, das die Schallmauer durchbrach – ein Geräusch, das wir sonst von israelischen Kriegsflugzeugen während des Krieges gewohnt sind.

Zehn Sekunden später kam es zu der Explosion und ehe er sich versah, waren er und sein Freund unter den Sofas. Sie schrien den anderen zu, dass sie geduckt bleiben sollten, während die Fenster und Wände der Wohnung zu Boden stürzten. Was folgte, waren extremes Chaos und ein tief sitzender Schock. Mein Freund blutete vier Stunden lang und lief durch Beirut, um in irgendeinem Krankenhaus medizinisch versorgt zu werden.

Wie ist denn die Situation derzeit vor Ort?

Beirut, wie wir es einst kannten, ist jetzt weg. 300.000 Menschen haben ihr Zuhause verloren, Gebäude und Krankenhäuser sind dem Erdboden gleichgemacht. Überall sind  Menschen am ganzen Körper verletzt und müssen genäht werden. Andere werden noch vermisst. Die Krankenhäuser sind voll ausgelastet.

134580108

Nach den verheerenden Explosionen im Hafen ist die Zerstörung in Beiruts Straßen riesig.

Foto:

dpa

All das geschieht, während die Regierung völlig abwesend ist. Die Menschen haben sich organisiert und Unterstützungsgruppen und Teams gebildet. Sie laufen auf den kaputten Straßen herum und bieten jedem Hilfe an, der sie braucht. All das Chaos wird dank Anstrengungen, die von allen Seiten kommen, aufgeräumt und abtransportiert. Die Straßen werden in diesem Augenblick gesäubert, aber die Schäden brauchen noch etwas mehr Zeit, um beseitigt zu werden.

Was ist im Moment das Wichtigste, das gebraucht wird?

Unterkünfte für die Menschen, die alles verloren haben. Was jedoch noch wichtiger ist, ist das globale Bewusstsein für die Situation in unserem Land: Wir haben die korrupteste Regierung der Welt und benötigen Hilfe der größeren Länder. Vor allem bei der Unterstützung der Revolution, einem Sturz des Regimes.

Und wie kann man am besten helfen?

Es wurden viele Fonds eingerichtet und es ist gelungen, eine Menge Geld zu sammeln. Die Solidarität von Menschen auf der ganzen Welt ist herzerwärmend. Persönlich habe ich mit meinen Freunden aus Europa, die alle in Beirut gelebt haben, die kleine private Spendenaktion „GoFundMe“ gestartet.

Es kam viel mehr Geld zusammen als erwartet. Das zusätzliche Geld spenden wir für eine weitere kleine Initiative. Ein befreundeter Innenarchitekt und sein Team wollen die beschädigten Häuser besichtigen und zerbrochenes Glas und Türen kostenlos reparieren.

Durch Geldspenden an kleine Initiativen wie diese erhalten die Menschen schnelle, persönliche Hilfe, die nicht von staatlicher Verantwortung abhängig ist. Denn: Im Libanon können wir nicht wirklich auf die Politik vertrauen.  Nichtregierungsorganisationen wie das Rote Kreuz sind ebenfalls sehr kritisch und waren bereits vor Ort, um sich unmittelbar nach der Explosion um die Verletzten zu kümmern.

Es ist derzeit noch nicht abschließend geklärt, wer verantwortlich für die Katastrophe ist. Was denken Sie dazu?

Meiner Meinung nach ist diese Explosion in erster Linie auf die Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit unserer korrupten Regierung und unserer politischen Parteien zurückzuführen. 2700 Tonnen Sprengstoff, der in Waffen verwendet wird, sind in der Mitte der Hauptstadt gelagert worden – das ist Wahnsinn. Und auch das kann nicht sein: Mehrere Tage nach der Explosion ist immer noch niemand angeklagt oder vor Gericht gestellt worden.

Email
Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp