• Foto: St. Pauli Archiv

Streifzug über den Hamburger Kiez: Wie aus diesem Platz das Herz von St. Pauli wurde

St. Pauli –

Der Spielbudenplatz ist das Herz von St. Pauli. Früher herrschte hier jahrzehntelang gähnende Leere. Doch mittlerweile wurde das Areal an der Reeperbahn endlich wachgeküsst. Ein Streifzug durch die Geschichte des Spielbudenplatzes mit Geschäftsführer Jochen Bohnsack. 

Als Jochen Bohnsack Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal auf den Kiez kam, da gab es für ihn nur „das goldene Dreieck“: Molotow, Lehmitz, Esso-Tankstelle. Gerade volljährig geworden hatte er den Spielbudenplatz „noch nicht wirklich auf dem Zettel“. Das Herz vom Kiez? Das lag damals vielleicht noch auf dem Hans-Albers-Platz. Oder vielleicht an der Kreuzung vor der Davidwache.

„Da war einfach nur eine Sandfläche“, erinnert sich der 41-Jährige. „Natürlich habe ich noch nicht daran gedacht, dass ich hier eines Tages arbeiten werde.“ Heute ist er Geschäftsführer der „Spielbudenplatz Betreibergesellschaft“. Wer zwischen den beiden Vattenfall-Bühnen was auf die Beine stellen will, muss erst mal an ihm vorbei. Das klingt bedrohlicher, als es wirklich ist.

Spielbudenplatz: Tagsüber Dorf, am Abend Musical-Magnet

Das Operettenhaus zieht Musical-Fans aus der ganzen Welt an.

Das Operettenhaus zieht Musical-Fans aus der ganzen Welt an.

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dpa

Bohnsack passt mit seiner entspannt-norddeutschen Art und dem relaxten Dialekt scheinbar gar nicht in die neongrelle Kiez-Welt, in der man vorrangig windige und großspurige Macher-Typen mit aufgeknöpftem Hemd und Goldkette vermutet. Von seinem Büro auf der anderen Straßenseite blickt man auf die blinkenden Lichter vom „Klubhaus“ neben dem Schmidt-Theater und die Stelle, an der im September 2015 die West-Bühne des Spielbudenplatzes abbrannte.

Es ist jetzt 11 Uhr vormittags, bei Tageslicht wirkt der Kiez vor allem: verschlafen. 40.000 Autos fahren täglich am Spielbudenplatz vorbei. Wenn die Sonne untergeht, kommen die Musical-Touristen. Tagsüber herrscht hier Großstadt-Dorfplatz-Atmosphäre.

Dagmar Berghoff über den Platz: „Charme einer Autobahnauffahrt“

Die ehemalige „Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff.

Die ehemalige „Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff.

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dpa

Als der Spielbudenplatz zum ersten Mal auf der Suche nach einer neuen Identität war, ließ sich die frühere „Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff zu der Äußerung hinreißen: „Der Spielbudenplatz hat den Charme einer Autobahnauffahrt.“

Sexmeile? Schmuddelpflaster? In der Mitte der Reeperbahn bewegt man sich auf neutralem Boden, hier trifft Bürgertum auf Pfandflaschensammler. Kein Lude penetriert die Flaneure mit seinen Wortsalven: „Na, die Herrschaften? Jetzt mal schön reinkommen und richtig geile Weiber sehen!“

Dabei war der Spielbudenplatz schon immer ein Ort der Attraktionen. Spiel-buden-platz. Der Name verrät es ja eigentlich schon. Spielerisch ging es hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu, als die ersten Holzbuden für kurzweiliges Amüsement ansiedelten.

Spielbudenplatz: Revue, Menschen-Zirkus und Tier-Shows

„Ballhaus Trichter“, ein schicker Revue-Salon, war vielleicht so etwas wie der frühe Vorgänger von Corny Littmanns Schmidt Theater. Viele der spartanischen Bretterbuden glichen eher einem Kuriositätenkabinett, die für damalige Verhältnisse aber maximale Anziehungskraft ausübten. Und dafür brauchte man nicht einmal den Liebreiz nackter Frauen. Stattdessen gab es das, was die Hamburger bislang nur aus Karl-May-Romanen der Seefahrer-Erzählungen kannten, jetzt zum ersten Mal aus nächster Nähe zu sehen.

„Da waren viele schräge Shows, so eine Art Menschenzirkus“, erzählt Jochen Bohnsack, „da wurden die ersten Indianer und Neger gezeigt. Und ich sage bewusst ,Neger‘, weil das damals halt der Begriff war für die Farbigen, die einem erstaunten Publikum präsentiert wurden.“ Ab 1863 ließ Carl Hagenbeck vor Ort die ersten Seehunde applaudieren – ein erster Testballon für die buchstäblich tierische Begeisterung in der Hansestadt, die 1907 ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte, als Hagenbecks Tierpark eröffnet wurde, damals noch außerhalb der Stadtgrenzen.

Historisches St. Pauli-Theater und das erste Kino

Ebenso Geschichte schrieb das St. Pauli Theater, das älteste Haus am Platz. 1841 als „Urania-Theater“ gegründet, wurde es exakt 100 Jahre später in den heutigen Namen umbenannt, als die Nazis davon erfuhren, dass Betreiber Ernst Drucker jüdischen Glaubens war. Erst seit 2011 steht auf dem Briefpapier des Hauses der politisch korrekte Zusatz „ehemals Ernst Drucker Theater“.

Und auch die bahnbrechendste Erfindung in der Geschichte der modernen Kulturwelt machte natürlich nicht vor dem Spielbudenplatz halt. Als die Brüder Lumière 1895 in Paris die Bilder zum Laufen brachten und den ersten Cinematographen erfanden, dauerte es noch einmal elf Jahre, bis auch in Hamburg die Leute gebannt vor der Leinwand saßen.

Die Party zum Eurovision Song Contest findet jährlich auf dem Spielbudenplatz statt.

Die Party zum Eurovision Song Contest findet jährlich auf dem Spielbudenplatz statt.

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Im heutigen Docks eröffnete „Knopps Lichtspielhaus“, eines der ersten Kinos Deutschlands. In der Prinzenbar kann man noch heute Überreste des historischen Stucks von damals an den Wänden und der Decke erkennen. Was heute selbstverständlich wirkt, war für damalige Verhältnisse extrem ungewöhnlich.

St. Pauli: Die Lustmeile bekommt ein Gewalt-Problem 

Während man sich in anderen Hafenstädten stets entlang der glitzernden Promenade verlustierte, mussten die neu ankommenden Matrosen und Seefahrer in Hamburg zunächst einige Meter zurücklegen, bevor man die Lichter der Lust erhaschte: „Im Hafen wurde halt vor allem geackert, für Amüsement musste man den Hamburger Berg hochstiefeln“, sagt Jochen Bohnsack.

Doch wo viel Lust, da ist auch viel Druck – und der kann schnell in Gewalt umschlagen. Oder wie der Hamburger Kult-Humorist Fips Asmussen mal treffend formulierte: „Wie sage ich immer zu meiner Frau: Entschuldigung, aber wenn ich erregt bin, dann fließt mir das Blut aus dem Kopf ganz schnell zwischen die Beine.“ Ab den 1970er Jahren wird die Gangart auf dem Kiez und dem Spielbudenplatz konstant rauer, Messerstechereien und Schießereien sind keine Seltenheit mehr.

Hamburg: Neubeginn für den Spielbudenplatz

Die Reeperbahn wird für Auswärtige zum Abenteuer mit gefährlich-geiler Note. In den 90er Jahren entspannt sich die Situation etwas, die Gewalt ist aber auch heute noch nicht verschwunden. Auf der Vergnügungsmeile herrscht nach wie vor am Wochenende ein Waffen- und Flaschenverbot. Trotzdem hat sich das Bild gewandelt – zum Besseren.

Der Spielbudenplatz kurz nach seiner Umgestaltung 2006, Hier standen noch beide Bühnen.

Der Spielbudenplatz kurz nach seiner Umgestaltung 2006, Hier standen noch beide Bühnen.

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Für den Spielbudenplatz-Chef setzte der Wandel erstmals bewusst vor 15 Jahren ein: „Ich stolperte 2004 eher zufällig über die Party zum ,Eurovision Song Contest‘. Max Mutzke und so. Da wurde mir klar, dass hier überhaupt so ein richtiger Platz ist“, wie er schmunzelnd gesteht. Die erste geplante Großveranstaltung war gleichzeitig auch der Neubeginn für das neue Gesicht des Spielbudenplatzes: Erst wenige Jahre zuvor hatte man im Senat die Köpfe zusammengesteckt und gemeinsam mit dem Bezirksamt über neue Gestaltungsmöglichkeiten sinniert.

St. Pauli: Verrückte Pläne werden geschmiedet

Und die Ideen waren durchaus schräg. Hamburgs damaliger Bausenator Mario Mettbach beauftragte den US-amerikanischen Künstler-Superstar Jeff Koons mit einer Installation, die ihresgleichen suchen sollte. Der Plan: Zwei 110 Meter hohe Kräne, die zwei monströse Gummi-Enten mit Schwimmring zeigen sollten. Jochen Bohnsack erinnert sich mit Grauen: „Völlig schräg in der Nachbetrachtung. Ich bin eigentlich ziemlich entsetzt, dass man damals so lange und so intensiv über so einen Entwurf nachdenken konnte.“

Der Spielbudenplatz ist nicht nur bei Nachtschwärmern ein beliebter Treffpunkt.

Der Spielbudenplatz ist nicht nur bei Nachtschwärmern ein beliebter Treffpunkt.

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Axel Heimken

Im Dezember 2004 wurde endlich ein glaubwürdiger Architektur-Wettbewerb ausgerufen. Umgesetzt wurde schließlich der drittplatzierte Entwurf des Berliner Architekturbüros „Lützow 7“. Die Idee: keine Kunst-Installation, sondern eine multifunktionale Fläche mit zwei Bühnen, die man ver- und zusammenschieben kann.

2006 wurde der Entwurf realisiert. Von den zwei ursprünglichen Bühnen, steht heute jedoch nur noch eine. 2015 fackelten bis heute unbekannte Brandstifter die West-Bühne ab. Der Beliebtheit des Spielbudenplatzes tat der Brand jedoch keinen Abbruch, vom erotischen Weihnachtsmarkt bis zum Food Truck Festival finden hier jede Menge Höhepunkte statt.

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