Im Selbsttest: Nüchtern auf dem Schlagermove – wie schlimm ist das?
Laut, schrill und jede Menge betrunkene Menschen: Nach zwei Jahren Corona-Pause fand am Samstag wieder der Schlagermove in Hamburg statt. Ich gehöre zu den Menschen, die sich bereits Wochen vorher Vermeidungsstrategien überlegen. In diesem Jahr kommt es anders. Ich stürze mich ins Getümmel – abgeneigt und nüchtern. So war St. Paulis größte Schlagerparty – ein Selbsttest.
Mein Rundgang beginnt um 15 Uhr auf dem Heiligengeistfeld, als die Trucks in Richtung Elbe starten. Vor einem Bulli sitzen Bogdan, Jutta, Michael und Susanne. Sie trinken bereits Wodka und Dosenbier. „Darf ich mich für ein Foto auf deinen Campingstuhl setzen?“, frage ich Bodgan. „Na klar, du darfst dich überall draufsetzen“, antwortet er mir.
Mit dieser anzüglichen Bemerkung beginnt mein Tag auf dem Schlagermove. Am liebsten würde ich direkt wieder nach Hause gehen.
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Laut, schrill und jede Menge betrunkene Menschen: Nach zwei Jahren Corona-Pause fand am Samstag wieder der Schlagermove in Hamburg statt. Ich gehöre zu den Menschen, die sich bereits Wochen vorher Vermeidungsstrategien überlegen. In diesem Jahr kommt es anders. Ich stürze mich ins Getümmel – abgeneigt und nüchtern. So war St. Paulis größte Schlagerparty – ein Selbsttest.
Mein Rundgang beginnt um 15 Uhr auf dem Heiligengeistfeld, als die Trucks in Richtung Elbe starten. Vor einem Bulli sitzen Bogdan, Jutta, Michael und Susanne. Sie trinken bereits Wodka und Dosenbier. „Darf ich mich für ein Foto auf deinen Campingstuhl setzen?“, frage ich Bodgan. „Na klar, du darfst dich überall draufsetzen“, antwortet er mir.
Mit dieser anzüglichen Bemerkung beginnt mein Tag auf dem Schlagermove. Am liebsten würde ich direkt wieder nach Hause gehen.
Schlagermove: Feuchte Aussprache, Alkohol, Ballermann-Musik
Feuchte Aussprache, Alkoholfahnen, Ballermann-Musik – ich merke schnell, dass ich mich auch in diesem Jahr nicht mit dem Schlagermove anfreunden werde.
Normalerweise bin ich in dunklen Techno-Cubs beheimatet. Dort sind meine Gleichgesinnten meist unauffällig gekleidet – überwiegend in schwarz. Niemand grölt, singt laut – und schief. Niemand nimmt mich ungefragt in den Arm, um mit mir zur Musik zu schunkeln. Was ich am Samstagnachmittag auf dem Kiez erlebe, ist der absolute Kontrast.
Schlagerparty in Hamburg: Besucher in bester Laune, MOPO-Reporterin nicht!
Ich sehe Leute mit pinken Schlaghosen, Pailletten-Oberteilen, glitzernen Hüten. Aus allen Ecken ertönt (für meinen Geschmack) seltsame Musik: Schlager. „Da hat das rote Pferd sich einfach umgekehrt und hat mit seinem Schwanz die Fliege abgewehrt“. Wie kann man dazu nur feiern? Den Besuchern taugt es. Die Stimmung auf dem Kiez kocht, der Alkoholpegel steigt. Und mittendrin stehe ich und versuche mich abzukühlen – mit alkoholfreiem Bier.
Die Rundstrecke führt über die Helgoländer Allee, an den Landungsbrücken vorbei, über die Hafenstraße und den Pepermölenbek auf die Reeperbahn – 3,3 Kilometer Schlager-Inferno. Von 47 Trucks ertönen unterschiedlichste, sinnfreie Musiktexte: „Ja, ja, ich sitz‘ schon wieder dicht in ’nem Flieger. Alles egal, denn der Bass knallt brutal“. Die Masse singt mit. Ich verspüre plötzlich das Bedürfnis in die Elbe zu springen und davon zu treiben.
Hamburger Schlagermove: Entweder man hasst ihn, oder liebt ihn!
Unfassbar, wie viele Menschen Gefallen an St. Paulis Ballermanisierung finden. Der Veranstalter zählt rund 400.000 Besucher – 2019 waren es 350.000. Für mich sind es 400.000 Besucher zu viel. Plastikbecher und Zigarettenstummel liegen auf den Straßen. Es riecht nach Urin und Schweiß. Viele feierwütigen Besucher haben ihre guten Manieren offenbar Zuhause gelassen.
In einer Seitenstraße der Reeperbahn bleibt plötzlich eine Gruppe junger Männer vor mir stehen. Dann geht’s los: „Wie heißt die Mutter von Niki Lauda?“, grölen sie und blicken mich erwartungsvoll an. Ich antworte zögerlich „Mama Lauda“, was klingen soll wie ein gelalltes „Mach mal lauter“ – und schäme mich ein bisschen für meine Textsicherheit beim gleichnamigen Hit von Almklausi und Spektakel.
Diese Schlager-Soße schlägt mir auf’s Gemüt – trotz besten Wetters. Ehrlich gesagt wünsche ich mir gerade einen Platzregen, der all die Kostümierten von der Straße spült.
„Wir haben allen Grund zum Saufen“
Doch es kommt anders. Ich lande in einer Gruppe junger Männer, die Blaumänner tragen. Sie kommen aus dem Sauerland und sind äußerst redselig. „Wir spielen Fußball und sind abgestiegen, also haben wir allen Grund zum Saufen“, erklärt mir einer der Männer. Frustsaufen also – meinetwegen. Vielleicht wäre das nun auch das Richtige für mich?
Mir ist heiß. Ich brauche eine kleine Abkühlung und öffne ein Bier – alkoholfrei. Lange bleibe ich nicht allein. Denny (53) aus Billstedt nimmt mich in den Arm, will anstoßen. Ich bin überrascht: Von hanseatischer Kühle ist auf dem Kiez am Samstag offenbar keine Spur. Wir trinken zusammen. Er merkt wohl nicht, dass mein Bier keinen Alkohol enthält. Denny witzelt herum, hat gute Laune, lässt mich irgendwann diskussionslos weiterziehen. Angenehm.
Dann begegne ich einer Gruppe aus vier Frauen. Sie sind aus Stuttgart angereist und bester Dinge. „Wir waren schon sieben Mal auf dem Schlagermove. Endlich können wir nach zwei Jahren Pause wieder herkommen“, sagt Claudia. Sie trinken und lachen. Die Schwaben verstehen es wohl zu feiern.
Als ich mich von den gutgelaunten Damen verabschieden möchte, nimmt mich Claudia mütterlich in den Arm und sagt: „Trau dich doch beim nächsten Mal auch, ein Kostüm anzuziehen. Dann würde es viel mehr Spaß machen.“
Danke für den Tipp, Claudia. Aber ich glaube, es wird kein nächstes Mal geben.