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  • Foto: Volker Schimkus

MOPO-Reporter im Selbsttest: Nüchtern auf dem Schlagermove: Hält man das aus?

St. Pauli –

Kein Hossa in diesem Jahr! Eigentlich sollte am heutigen Sonnabend der Schlagermove durch St. Pauli schunkeln – doch aufgrund der Corona-Pandemie wurde er abgesagt, es gibt 2020 lediglich einen virtuellen Schlagermove. Unser Reporter Marvin Wennhold hat im vergangenen Jahr dort ein besonderes Experiment gewagt: Er begab sich stocknüchtern auf die Sause! Wie es ihm unter lauter blauen Schlümpfen, angeschickerten Schlaghosenträgern und Promille-Fröschen erging, lesen Sie hier. 

Schrille Outifts, bunte Lichter und Schlagermucke – einmal im Jahr erinnern das Heiligengeistfeld und die Reeperbahn an den Ballermann auf Mallorca. Das Wetter passt zwar nicht ganz, der Alkoholkonsum ist dafür aber durchaus vergleichbar. Fragt sich nur: Wie hält einer die Sause aus, der sich nicht mit Bier, nicht mit Schnaps in Stimmung bringt?  Mit anderen Worte: einer wie ich. Ich hab’s getestet. Mit überraschendem Ergebnis!

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Die Schlumpf-Truppe hat mir auch ein Bier angeboten. Ich musste aber ablehnen.

Foto:

Volker Schimkus

Ein fröhliches „Hossa“ und herzlich Willkommen! Schon auf dem Weg zum Epizentrum der geschmacklosen Musik bekomme ich einen kleinen Vorgeschmack darauf, was mich noch erwartet: Die Kostüme, in denen das Partyvolk an mir vorbei läuft, lösen in mir ein bestimmtes Gefühl aus: Fremdscham!

Selbsttest: So ist es nüchtern auf dem Schlagermove

Froschkostüme, rote Hosen, gelbe Schuhe, pinke Jacken und Rüschenkleider – ich bin in der Menge plötzlich der einzige, der „normal“ aussieht, und genau das macht mich zum Außenseiter. Aber was soll’s! Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Und heute ist Dienst angesagt.

Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und der widme ich mich mit ganzer Kraft. Also nichts wie hinein in die tobende Menge – und dabei laufe ich sofort einer Gruppe (innen wie außen) blauer Schlümpfe in die Arme. Kurz nicht aufgepasst, habe ich auch schon die erste Hand im Gesicht und eine auf der Schulter. „Willste ’n Bier?“, trötet mir einer ins Ohr. Die Spaßbremse in mir antwortet: „Nee, lass mal. Ich muss arbeiten – oder sowas ähnliches.“

Auch wenn ich mich irgendwie aus der Schlumpf-Familie rauswinden kann, bin ich optisch fast ein bisschen ein Teil von ihr geworden, denn die blaue Farbe, mit der die sie  sich  angemalt haben, ist nicht nur in meinem Gesicht und an meinen Händen, sondern auch auf meinen Klamotten! So hatte ich mir diesen Arbeitstag  nicht vorgestellt – na ja ein bisschen ja wohl doch, wenn ich ehrlich bin.

Schlager gehört nicht zu meinen Lieblingsgenres

Als bekennender Fan von guter Musik, gehört Schlager nicht unbedingt zu meinen Lieblingsgenres. Ich bin also nicht nur nüchtern, sondern eigentlich auch noch auf der falschen Veranstaltung.

Doch ich hab auch Positives zu berichten: Die Leute sind zwar ganz schön angeheitert, aber dabei immer nett und aufgeschlossen.

Ehe ich den Gedanken zu Ende denken kann, finde ich mich auch schon in einer Gruppe hübscher Frauen wieder, die munter mit Prosecco anstoßen und mich gleich in ihre Reihen aufnehmen. Ich muss schon wieder Nein sagen. Leider, Mädels! Nett, euch kennengelernt zu haben.

Jetzt will ich mir mal angucken, wie so ’n Schlagermove von oben aussieht – klettere auf den „Rotkäppchen-Fruchtsecco-Truck“ und fahre mal ein bisschen mit. Bei musikalischer Untermalung von Schlager-Star Norman Langen (der war mal bei DSDS!), geht es zwischen den jubelnden Massen Richtung Reeperbahn. Neben mir werfen gerade top gestylte Frauen alles in die Menge, was sie finden können: rote Sonnenbrillen, Taschen mit Rotkäppchen-Werbung oder auch mal einen „Fruchtsecco“ – austrocknen soll ja schließlich niemand.

Während rundherum der Pegel steigt, die Meute immer ausgelassener feiert, wird mein Gefühl, hier falsch zu sein, immer stärker. Ich nutze also die erste Gelegenheit und husche vom Wagen. Ich habe nur noch einen Gedanken: Ich muss hier weg, sofort!

Schlagermove auf dem Kiez: Es regnet Bier und riecht nach Schweiß und süßem Sekt

Doch stattdessen finde ich mich auf der Straße direkt zwischen zwei riesigen Gruppen feierwütiger Leute wieder. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich irgendwie durch die Menge zu schlängeln – Körperkontakt inklusive. Während von links der Inhalt einer Bierdose über mich regnet, lässt mich rechts ein schriller Pfeifton zusammenzucken. Ich rieche Schweiß, süßen Sekt und ein Mischmasch aus billigen Deos – und ich finde es – sorry – nur noch widerlich.

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Daher bin ich froh, als ich endlich wieder Tageslicht sehe am Ende der Menschentraube. Je weiter ich gehe, desto leiser wird die Musik und desto besser meine Laune. Ich bin erschöpft, erleichtert und um eine Erfahrung reicher, die ich nie habe machen wollen. Eins ist jedenfalls klar: Schlagermove kommt für mich kein zweites Mal in Frage – jedenfalls nicht in nüchternem Zustand.  

Der Artikel ist eine Geschichte aus unserem Archiv und erstmals am 15. Juli 2019 in der Hamburger Morgenpost erschienen. In unregelmäßigen Abständen kramen wir in unserem Archiv und suchen Stücke heraus, die auch heute noch lesenswert sind.

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