• Freud und Leid ganz dicht beieinander: Karin Klickermann (40) und ihre Kinder Jonna (7, l.), Enna (5) und Emil (10).
  • Foto: privat/hfr

Mama stirbt: Wie eine Hamburgerin ihre Kinder auf das Leben ohne Mutter vorbereitet

Eimsbüttel –

Mama stirbt. Das wissen die kleine Enna (5), ihre Schwester Jonna (7) und ihr großer Bruder Emil (10) seit einer Woche. Vielleicht dauert es noch ein paar Wochen. Vielleicht auch nur noch wenige Tage. Das weiß niemand. Nicht mal der liebe Gott. Aber eins wissen die drei Geschwister aus Eimsbüttel ganz genau: Auch wenn Mama nicht mehr da ist, wenn sie zusammen mit Opa auf einer Wolke sitzt und herunterschaut – ihre Liebe wird immer bleiben. 

Karin Klickermann hat Krebs im Endstadium. Seit ein paar Tagen kann sie kaum noch aufstehen. Die Kraft weicht langsam aus ihrem Körper. Doch der Geist der 40-Jährigen sprüht noch immer vor Energie. Aufrecht angelehnt an die Holzlehne sitzt sie in ihrem Bett und versucht, so viel wie möglich für diejenigen da zu sein, die sie noch so dringend brauchen.

„Mama, stirbst du jetzt, wenn du auf dem Klo bist?“, fragt Enna (5)

Immer wieder geht die Tür auf und die kleine Enna schaut nach, was Mama macht. Selbst wenn Karin zur Toilette geht, weicht die Fünfjährige nicht von ihrer Seite. „Mama, stirbst du jetzt, wenn du auf dem Klo bist?“, fragt sie. Enna hat wie ihr Geschwister lange geweint, als ihre Karin und ihr Mann ihr sagen mussten, dass Mama nicht mehr lange da sein wird. Die Eltern haben es jedem Kind einzeln gesagt. „Wir wollten, dass jedes von ihnen den Raum für seine Trauer bekommt, den es braucht“, sagt Karin. 

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Kurz nach der Diagnose: Karin Klickermann mit ihrer Jüngsten.

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privat/hfr

Dass ihr Leben bald vorbei sein wird, weiß Karin selbst erst seit anderthalb Wochen. Da lagen schon vier Jahre Kampf gegen den Feind in ihrem Körper hinter ihr. Angefangen hatte alles, als Enna noch ein Baby war. „Ich hab noch gestillt“, sagt Karin leise. Da spürte sie auf einmal einen Knoten in der linken Brust. Gleich am nächsten Tag ging sie zur Frauenärztin. „An ihrem Blick habe ich gesehen: Es ist ernst!“, erinnert sich Karin.

Der Tumor war schon vier Zentimeter groß. Er war schnell wachsend und hochaggressiv. Karin bekam das volle Programm. Die höchste Dosis Chemotherapie. OP mit kompletter Brustabnahme. Bestrahlung. „Im Anschluss galt ich als geheilt“, sagt die Designerin. Sie wurde engmaschig überwacht. Alle drei Monate ging sie zur Kontrolle. Ein ungutes Gefühl blieb. Doch die Ärzte fanden nichts. 

Bei der Hochzeit bekam sie plötzlich schlecht Luft

„Anderthalb Jahre lang hatten wir ein sehr gutes Leben“, sagt Karin. Die Hochzeit sollte die Krönung sein. Nach 16 Jahren Beziehung und drei Kindern wollten Karin und ihr Mann Michael ihre Liebe auch amtlich dokumentieren. Es wurde ein wunderschönes Fest. Dass sie irgendwie schlecht Luft bekam, bemerkte die Braut, verdrängte es aber. Nichts sollte ihr Glück trüben.

Mama stirbt (2)

Da gab es noch Hoffnung: Karin Klickermann mit ihren Töchtern.

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privat/hfr

Erst eine Woche später ging sie zum Arzt – und bekam die Schock-Diagnose: Winzig kleine, kaum sichtbare Mikrometastasen hatten sich explosionsartig ausgebreitet und sowohl Lunge als auch Knochen erobert. „Es war sofort klar: Das ist unheilbar“, sagt Karin. Den Ärzten gelang es aber mit verschiedenen Therapien, das Wachstum zu stoppen und den Krebs in Schach zu halten. Es gibt Menschen, die viele Jahre so weiterleben. Genau darauf setzten Karin und ihre Familie ihre ganze Hoffnung.

Vor anderthalb Wochen wurde diese Hoffnung endgültig zerstört. Nach einem Zusammenbruch stellte Karins Ärztin fest, dass alle verfügbaren Therapien keine Wirkung mehr zeigten. „Sie gab mir den Rat, nach Hause zu gehen und die letzten Tage mit meiner Familie zu verbringen“, sagt die 40-Jährige leise.

Die Kinder sollen die Mutterliebe noch lange spüren

Seitdem dreht sich bei Karin alles um eins: Was bleibt von mir? Was bedeutet das Ende meines Lebens für die Zukunft meiner Liebsten? Dabei geht es nicht darum, dass sie Sorge hat, ohne sie würde das Familienleben zusammenbrechen. „Mein Mann und ich haben uns immer alles gut aufgeteilt. Der kann das!“, sagt sie zuversichtlich. Freunde und Familie stünden bereit, um den bald verwitweten Dreifachvater zu unterstützen.

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Gerade mal zwei Monate her: Der letzte gemeinsame Urlaub in Österreich.

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privat/hfr

Worum es Karin geht, ist Spuren zu hinterlassen. Spuren ihrer Seele. Zeichen ihrer Liebe. Vor allem für die drei Kinder, die ohne Mama aufwachsen müssen. Sie sollen noch so lange wie möglich das spüren, was Mutterliebe ausmacht – Geborgenheit, Urvertrauen, Sicherheit.

Zu jedem Geburtstag kriegen die Kinder einen Brief von Mama

Deshalb hat Karin Kisten gebastelt mit kleinen, sehr persönlichen Geschenken für ihre Kinder. Darin sind auch Briefe enthalten – für jeden Geburtstag bis zum 18. Lebensjahr einen. Und Tagebücher, die die 40-Jährige für jedes Kind einzeln über seine Entwicklung in den ersten Jahren geschrieben hat.

Auch ihre eigene Trauerfeier hat die Sterbenskranke geplant und die Rede abgestimmt, die eine professionelle Trauerrednerin halten wird. „Es soll keine dramatisch-emotionale Rede sein, sondern möglichst kurzweilig, unterhaltsam und auf Kinder zugeschnitten“, sagt Karin. Für die Beerdigung wünscht sie sich, dass ihre Kinder die Urne bunt bemalen. Sie soll auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt werden – in das Grab, in dem auch Karins Vater erst vor einem Monat bestattet wurde. Seine Frau, Karins Mutter, verliert innerhalb weniger Wochen gleich zwei der wichtigsten Menschen in ihrem Leben.

Besonderes Geschenk: Ein Hörbuch mit Mamas Stimme

Besonders am Herzen liegt Karin nun noch ein Projekt, das vor dem Aus steht. Es heißt „Familienhörbuch“ und ist die Fortführung einer Studie, die an der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn durchgeführt wurde. Dabei geht es darum, dass Eltern, die im Sterben liegen, aufgenommen werden, um noch eine letzte Botschaft an ihre bald verwaisten Kinder zu richten. So sollen die Kinder später immer die die Möglichkeit haben, Mamas Stimme zu hören, wenn sie Trost brauchen oder sich einfach erinnern wollen.

Karin hat einen ganzen Tag lang in das Mikrofon einer „Familienhörbuch“-Redakteurin gesprochen. Entstanden ist ein Audiobuch mit vielen Kapiteln. In einem geht es um Karins eigene Kindheit. „Ich erzähle ihnen darin, wie ich selbst groß geworden bin. Wie das Verhältnis zu meinen Eltern war und was ich so erlebt habe“, sagt Karin. In einem anderen Kapitel geht es um Michael, den Vater der Kinder. Wie sie sich kennen und lieben lernten. Wie sie beschlossen, eine Familie zu gründen. Natürlich bestimmt auch der Krebs einen Großteil des Hörbuches. Und schließlich bekommt jedes Kind sein eigenes Kapitel, in dem es direkt angesprochen wird.

Jedes Kind bekommt sein eigenes Kapitel

„Ich erzähle ihnen, wie sie entstanden sind. Wie die Schwangerschaft war, die Geburt und die ersten Jahre“, sagt Karin. Es sind nüchterne Fakten gemischt mit fröhlichen Anekdoten. Vor allem möchte die Sterbende ihren Kindern dabei aber vermitteln, wer ihre Mutter wirklich war. Was ihr wichtig war im Leben und welche Wertvorstellungen ihr Handeln bestimmt haben. „Es geht mir nicht darum, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken, wie ich sie gerne hätte“, betont Karin. Stattdessen solle das Audiobuch eine Art Lebensnavigator sein. „Wenn sie mal in schwierige Situationen kommen, können sie sich anhören, wie ich damit umgegangen wäre.“

Die Familienhörbücher sind aufwändig produziert. Die Erzählungen werden durch Effekte und Musikeinspielungen untermalt. Das kostet viel Geld. Geld, mit dem Angehörige in dieser Ausnahmesituation nicht noch zusätzlich belastet werden sollen. Bisher wurden die Hörbücher von der RheinEnergieStiftung Familie finanziert. Das Buch für Enna, Jonna und Emil war davon noch abgedeckt. Doch seit dem 1. März ist die Förderung ausgelaufen, was Karin traurig macht. „Für mich ist das ein sehr wertvolles Geschenk an meine Kinder. Ich wünsche mir, dass andere Kinder, die ihre Mutter oder ihren Vater verlieren, auch so ein Geschenk bekommen“, sagt Karin. Deshalb hat sie zusammen mit ihrer Mutter auf GoFundMe einen Spendenaufruf für das Projekt gestartet.

„Ich werde langsam einschlafen. Ich habe keine Angst“

Am 6. April hat Karin Geburtstag. Die Rettung des Projekts wäre auch für sie eines der letzten Geschenke, über die sie sich riesig freuen würde. Ob sie den Tag, an dem sie 41 würde, noch erlebt, ist ungewiss. Angst vor dem Tod hat sie nicht. „Ich bin aufgeräumt und vorbereitet. Die Ärzte sagen, ich werde langsam einschlafen und nicht wieder aufwachen.“ Ennas, Jonnas und Emils Mama wird sanft hinüber gleiten in die andere Welt. Hoch zu ihrem Vater, der oben auf der Wolke schon auf sie wartet. Und wenn es regnet, dann wird Enna denken, dass Mama die Blumen gießt.

Karin Klickermann ist kurz nach Fertigstellung dieses Artikels gestorben. Es wäre ihr Wunsch gewesen, dass der Text trotzdem erscheint. Die MOPO-Redaktion wünscht der Familie von Karin Klickermann viel Kraft in dieser schwierigen Zeit.

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