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  • Foto: Verlag Randomhouse

Kommt ein Syrer nach Rotenburg : Wie Samer Tannous seine neue Heimat Deutschland erlebt

Samer Tannous floh 2015 mit seiner Familie aus Damaskus und lebt seitdem in Rotenburg (Wümme) in der Metropolregion Hamburg. Dass das Leben in Deutschland deutlich anders sein würde als in der syrischen Heimat, darauf war Tannous vorbereitet. Aber wie vielfältig die kleinen und die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Arabern und Deutschen sind, das erstaunt ihn immer wieder. Seit 2018 schreiben er und Gerd Hachmöller Gedanken über die neue Heimat in Deutschland auf. Die Kolumne, die aus diesen Texten hervorging, erschien über ein Jahr lang im „Spiegel“ und hat deutschlandweit viele Fans – auch weil es Tannous und Hachmöller immer wieder gelingt, die mitunter seltsamen Eigenheiten der Deutschen ebenso treffend wie warmherzig einzufangen. Nun erscheinen ihre Geschichten als Buch. Ein Auszug:

Eines Tages las ich einen sehr interessanten Satz von der bekannten arabischen Schriftstellerin Ahlam Mosteghanemi: „Ich habe mich am Anfang des Tages entschieden, eine schöne und faule Beziehung mit dem Leben zu haben. Was das bedeutet? Die Krawatte der Zeit aufzubinden und mein Hemd für den Wind des Zufalls aufzuknöpfen!“

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Co-Au­tor Gerd Hachmöl­ler.

Foto:

Verlag Randomhouse

Ich kann dieses Zitat nur unterstreichen und habe an euch Deutsche gedacht. Versteht ein Deutscher diese Metapher überhaupt? Seid ihr euch bewusst, wie eng eure Krawatten manchmal gebunden sind und wie wenig Zufall im Laufe eines Tages überhaupt noch an eure Haut kommen kann? Bei den meisten Deutschen in meinem Bekanntenkreis ist das komplette Leben in Kalendern geplant und festgeschrieben, sodass ungeplante Dinge kaum noch stattfinden können. Viele Deutsche sind selten bereit, ihre Zeitkrawatten etwas zu lockern und in ihrem Tagesablauf Unvorhergesehenes zuzulassen. Wie auch? Ihr System würde dadurch zusammenbrechen. Und ich habe gelernt: Fast alle Deutschen haben ein System.

Die meisten Deutschen planen ihr Berufs- und Privatleben

Die meisten Deutschen wissen nicht nur, was sie heute vorhaben, sie haben bereits einen Plan für die ganze Woche. Sowohl für das Berufsleben als auch für das Privatleben: Was sie machen wollen, wohin sie gehen, was sie kochen und essen werden und wo und wann sie feiern. Selbst mein 73-jähriger Freund Elmar, der in seinem Ruhestand eigentlich in den Tag hineinleben könnte, hat seine Freizeit komplett verplant und kann mir für jeden Tag dieser Woche sagen, was seine Frau und er vorhaben.

Das ist bei meiner Familie und mir anders. Meine Frau Hala könnte mir jetzt nicht sagen, was es morgen bei uns zu essen geben wird. Sie weiß es einfach noch nicht. Mal sehen, auf was wir morgen Appetit haben. Und nicht nur beim Essen geht uns das so, sondern bei vielen Aktivitäten.

Kann ein Deutscher spontan entscheiden, eine Party zu feiern? In Syrien hatte ich einen Freund, dessen Vater schon über siebzig Jahre alt war. Häufiger kam es vor, dass dieser alte Mann, wenn er Lust dazu hatte, abends spontan eine Party ausgerufen hat, um zu feiern, zu grillen, zu tanzen und zu lachen. Sein Standardsatz lautete: „Heute werden wir verrückt sein!“

Können Deutsche so etwas auch? Ist das hier überhaupt erlaubt, würden Gäste kommen, wenn es nicht im Kalender steht?

In Syrien wurde die Musik aufgedreht – auch nachts

Der Vater meines syrischen Freundes hat nie einen Termin ausgemacht mit der Freude und dem Frohsinn. Aber er war ein sehr froher Mann. In meinem syrischen Heimatdorf drehte auch häufiger jemand im Viertel spontan die Musik auf und unterhielt damit die gesamte Nachbarschaft. Auch zu nachtschlafender Zeit. Wir haben uns aber nicht beschwert. Im Gegenteil. So etwas war für uns eine hervorragende Gelegenheit, sich von der guten Laune anstecken zu lassen.

Das vermisse ich wirklich in Deutschland. Insbesondere in unserem so auf Ruhe bedachten Reihenhaus. Dabei würde ich mich freuen, wenn mein Nachbar mal die Musik laut aufdrehen würde und ich auf diese Weise seine Freude teilen könnte.

Ein positiver Nebeneffekt wäre, dass ich erfahren würde, welche Musik Deutsche überhaupt hören. Wer in Syrien unterwegs ist, lernt das automatisch. Wenn man dort mit dem Bus fährt, kann es einem passieren, dass laute Musik durch den Wagen dröhnt. Das liegt dann daran, dass der Busfahrer anscheinend gute Laune hat. Man kann sich nicht dagegen wehren, aber man will sich auch gar nicht dagegen wehren.

Mich selber hat solche Musik auf dem Weg zur Universität oft für meine Vorlesungen inspiriert. Auf jeden Fall hat sie mir gute Laune bereitet.

In Deutschland bin ich ruhig geworden

Ich wohne nun schon eine ganze Weile unter Deutschen. Und das hat mich verändert. Insbesondere bin ich sehr ruhig geworden.

Dabei kann ich Ruhe nur schwer ertragen. Als meine Frau kürzlich mit unseren Töchtern für ein Wochenende bei Verwandten war, saß ich alleine im Wohnzimmer.

Es war so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag hören konnte. Diese Stille hat mir Angst gemacht.

Zufriedenheit kennt keinen Kalender. Gefühle brauchen keinen Kalender. Lust, Trauer, Freude und Spaß lassen sich nicht planen. Und wenn die Freude an dein Herz klopft, muss man doch die Krawatte lösen. Kennen die Deutschen solche Gefühle nicht? Oder was machen sie dann?

Eine von mehreren Bedeutungen der arabischen Vokabel für Wind ist: „Liebe“. Und so lautet ein arabisches Lied: „Der Wind wehte. Aber wer sagt, dass alle Leute gleich wären? Es gibt die Menschen, die sich von einer kleinen Böe gestört fühlen. Es gibt andere, die nur mit diesem Windhauch leben können.“

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