„Räumt das Haus, ihr Schweine!“: Als bei Springer in Hamburg die Bomben explodierten
19. Mai 1972. Das Gebäude des Axel-Springer-Verlags in der Kaiser-Wilhelm-Straße (Neustadt). Um 15.41 Uhr explodiert im dritten Stock die erste Bombe. Wenige Minuten später gibt es eine weitere Detonation. 17 Menschen werden verletzt, zwei von ihnen schwer. Trotzdem ist viel Glück mit im Spiel. Denn es hätten leicht Hunderte Menschen ihr Leben verlieren können an diesem Tag. Im Gebäude sind noch drei weitere Bomben versteckt, die nicht hochgehen.
Genau ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit dem Sprengstoffanschlag auf Deutschlands größten Zeitungsverlag in Hamburg. Die Terrororganisation „Rote Armee Fraktion“ (RAF) bekennt sich wenige Tage später zu der Tat. Im Bekennerbrief, den die ehemalige „Konkret“-Journalistin Ulrike Meinhof verfasst hat, heißt es: „Enteignet Springer! Enteignet die Feinde des Volkes!“ Unterschrieben ist das Schriftstück mit „Kommando 2. Juni“.
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19. Mai 1972. Das Gebäude des Axel-Springer-Verlags in der Kaiser-Wilhelm-Straße (Neustadt). Um 15.41 Uhr explodiert im dritten Stock die erste Bombe. Wenige Minuten später gibt es eine weitere Detonation. 17 Menschen werden verletzt, zwei von ihnen schwer. Trotzdem ist viel Glück mit im Spiel. Denn es hätten leicht Hunderte Menschen ihr Leben verlieren können an diesem Tag. Im Gebäude sind noch drei weitere Bomben versteckt, die nicht hochgehen.
Genau ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit dem Sprengstoffanschlag auf Deutschlands größten Zeitungsverlag in Hamburg. Die Terrororganisation „Rote Armee Fraktion“ (RAF) bekennt sich wenige Tage später zu der Tat. Im Bekennerbrief, den die ehemalige „Konkret“-Journalistin Ulrike Meinhof verfasst hat, heißt es: „Enteignet Springer! Enteignet die Feinde des Volkes!“ Unterschrieben ist das Schriftstück mit „Kommando 2. Juni“.
Niemand weiß, ob die RAF wirklich Menschen verletzen oder töten wollte. Denn: Kurz vor der Detonation gehen beim Verlag zwei Warnanrufe ein. Um 15.35 Uhr – sechs Minuten vor der Detonation – der erste: „In 15 Minuten geht bei Ihnen eine Bombe hoch“, sagt ein Mann, der eine auffällig helle Stimme hat. Gertrud T., die in der Springer-Telefonzentrale arbeitet, denkt sich nicht viel dabei, verdreht nur die Augen – sie hat schon häufiger Drohungen entgegengenommen, ohne dass etwas passiert wäre.
Anschlag auf Springer-Verlag: Bombe reißt Loch in die Außenmauer
Zwei Minuten später meldet sich erneut ein anonymer Anrufer. Diesmal nimmt Elisabeth R., eine Kollegin, das Gespräch entgegen. Ein Mann mit süddeutschem Akzent sagt: „In 15 Minuten geht eine Bombe hoch! Räumt sofort das Haus, ihr Schweine!“ Elisabeth R. kontert cool: „Halt deine Schnauze!“ Aber Sorgen macht sie sich doch – und informiert um 15.39 Uhr den Sicherheitsbeauftragten des Verlages. Aber da ist es schon zu spät.
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Uwe Scherzel hat gerade noch Gelegenheit, die Polizei zu unterrichten und Katastrophenalarm auszulösen. Dann gibt es einen entsetzlichen Knall. Das ganze Haus bebt. In die Mauer des Verlagsgebäudes ist ein riesiges Loch gesprengt, im Umkreis von 100 Metern sind Fensterscheiben geborsten. Decken stürzen ein, eine Zwischendecke wird eingedrückt. Es sind vor allem Mitarbeiter aus dem Korrektorat und der Setzerei, die verletzt werden – niemand aus der Chefetage. Schon gar nicht Axel Cäsar Springer, Deutschlands mächtigster und gleichzeitig umstrittenster Verleger. Der hält sich zur selben Zeit in Berlin auf.
Um 15.42 geht ein dritter anonymer Anruf in der Telefonzentrale ein: „Es knallt gleich noch einmal!“, teilt ein Unbekannter mit. Kurz darauf bewahrheitet sich diese Ankündigung. Diesmal knallt es auf den Damentoiletten im sechsten Stock.
Bekennerschreiben von Ulrike Meinhof
Im Bekennerschreiben macht Ulrike Meinhof die Verlagsleitung für den blutigen Ausgang des Anschlags verantwortlich: „Springer ging lieber das Risiko ein, dass seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt werden, als das Risiko, ein paar Stunden Arbeitszeit, also Profit, durch Fehlalarm zu verlieren. Für die Kapitalisten ist der Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, ein Dreck. Wir bedauern, dass Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind.“
Ein Vorwurf, den der Verlag sofort empört zurückweist. „Alle hier aufgestellten Behauptungen sind blanke Lüge und nackter Zynismus. Dass in so kurzer Zeit über 3000 Arbeiter und Angestellte nicht evakuiert werden konnten, muss jedem einleuchten.“
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Später, im Prozess von Stammheim, werden die RAF-Mitglieder einräumen, dass der Anschlag ein Fehler war und dass „zu viele Unschuldige“ verletzt wurden. Die Tat hat der RAF geschadet. Nach der sogenannten „Mai-Offensive“ 1972, zu der auch der Anschlag auf Springer gehörte, ist in der Bevölkerung die Sympathie für die Terroristen – und es hat sie in Teilen der Gesellschaft sehr wohl gegeben – auf dem Tiefpunkt.
Ihre Wurzeln hat die „Rote Armee Fraktion“ in der Studentenbewegung der späten 60er Jahre. Ziel der aufsässigen Studenten ist es, den Kapitalismus und den als bürgerlich-spießig empfundenen Staat Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen. Aus dieser Zeit rührt auch der tiefe Hasse der Linken auf den Springer-Verlag. Das Unternehmen steht für das alte verlogene, reaktionäre Deutschland, für all das, was es zu bekämpfen gilt.
So wurde Axel Springer zum Todfeind der Linken
Vor allem „Bild“ ist ein Hassobjekt, denn Springers Boulevardzeitung macht immer wieder Stimmung gegen die Studenten, die landauf, landab gegen Amerika und den Vietnamkrieg demonstrieren und Parolen wie „Ho-Ho-Ho Chi Minh!“ skandieren. „Bild“ nennt sie „gemeingefährliche, langbehaarte Affen“, „Schlägerkolonnen“ oder tituliert sie als „arbeitsscheu“ und „parasitär“. Und damit prägt „Bild“ die Meinung vieler Menschen, vor allem in der älteren Generation.
Es ist kein Zufall, dass Ulrike Meinhof nach dem Attentat auf Springer das Bekennerschreiben mit „Kommando 2. Juni“ unterschreibt: Das ist eine Anspielung auf das, was am 2. Juni 1967 in Berlin passiert ist, als der persische Schah Reza Pahlavi – ein Despot, der in seiner Heimat Oppositionelle einkerkern und foltern lässt – gemeinsam mit Ehefrau Farah Berlin besucht: Als iranische Geheimdienstler mit Knüppeln auf demonstrierende Studenten einschlagen, hält sich die Berliner Polizei zurück, statt die jungen Menschen zu schützen. Später fahren die Beamten Wasserwerfer auf und setzen Schlagstöcke ein, um dem Staatsgast den Weg freizumachen. Und dann erschießt am Rande der Demo der Polizist Karl-Heinz Kurras völlig grundlos den Studenten Benno Ohnesorg.
Tod von Benno Ohnesorg radikalisiert die Studentenproteste
Obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Berlins Polizei die Hauptverantwortung für die Eskalation trägt, stellt „Bild“ es so dar, als wären die Demonstranten an allem schuld. Die Empörung über diese einseitige Berichterstattung ist so groß, dass die Parole „Enteignet Springer!“ in linken Kreisen immer populärer wird.
Der Tod Benno Ohnesorgs ist eine wichtige Zäsur. Bis zu diesem Tag gab es in der Studentenbewegung den Konsens, auf Gewalt gegen Menschen zu verzichten. Das ändert sich nun. Immer lauter wird jetzt darüber diskutiert, ob es nicht notwendig ist, zu anderen Mitteln zu greifen.
Ein Jahr später erreicht der Hass auf Springer seinen Höhepunkt: und zwar am 11. April 1968, Gründonnerstag. Da eröffnet vor dem Zentrum des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Berlin der Rechtsextremist Josef Bachmann das Feuer auf Rudi Dutschke. Während der Studentenführer im Krankenhaus um sein Leben kämpft, umstellen in Berlin und in Hamburg wütende Studenten die Springer-Zentralen. Das Ziel: die Auslieferung der Springer-Blätter zu verhindern. Denn alle sind überzeugt: „,Bild‘ hat mitgeschossen“, hat durch die Hetze gegen Dutschke & Co. dieses Attentat regelrecht heraufbeschworen. In Hamburg dauern die Unruhen über die Osterfeiertage an.
Nach Anschlag auf Rudi Dutschke: In Hamburg kommt es Ostern 1968 zu Unruhen
Ulrike Meinhof – damals noch keine Terroristin – verteidigt wenig später in einem Artikel für die Zeitschrift „Konkret“ die Ausschreitungen als notwendigen „Widerstand“: „Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, die die Enteignung Springers tatsächlich betreiben könnten, stattdessen Große Koalition machen, die in den Massenmedien die Wahrheit über ,Bild‘ und ,BZ‘ verbreiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten, deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch, sie messen mit zweierlei Maß.“
Keine zwei Jahre später, am 14. Mai 1970, verhilft Ulrike Meinhof dem Strafgefangenen Andreas Baader zur Flucht. Der Tag gilt als Gründungsdatum der „Roten Armee Fraktion“. Eineinhalb Jahre später, am 2. Oktober 1971, verübt die RAF ihren ersten Mord: in Poppenbüttel. Einer zivilen Polizeistreife fallen spät am Abend mehrere verdächtige Personen auf. Als die Polizeibeamten die Fremden kontrollieren wollen, fallen Schüsse: Polizeimeister Norbert Schmid (32) stirbt.
1971 und 1972 mordet die RAF in Hamburg
Ein weiterer Beamter kommt am 2. März 1972 in Rotherbaum ums Leben, als die Polizei die Fälscherwerkstatt der RAF entdeckt. Als die Fahnder die Räume durchsuchen, ist niemand da. Sie beschließen zu warten. Als gegen 22.45 Uhr die Terroristen Manfred Grashof (27) und Wolfgang Grundmann (25) zur Haustür reinkommen, kommt es zu einer Schießerei, bei der Grashof Hauptkommissar Hans Eckhardt (50), den Chef einer Sonderkommission, erschießt, bevor er selbst von Polizeikugeln niedergestreckt wird.
Zwei Monate später beginnt schließlich das, was heute die „Mai-Offensive“ der RAF genannt wird: Die Terrororganisation verübt in kurzer Folge eine ganze Reihe von Sprengstoffanschlägen: auf das Hauptquartier des V. US-Korps in Frankfurt, auf die Polizeidirektion Augsburg und auf das Landeskriminalamt in München.
RAF hat auch einen Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof im Visier
Ebenfalls im Visier: Wolfgang Buddenberg, Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof. Als dessen Frau Gerda am 15. Mai 1972 das Auto startet, geht eine Bombe hoch, die unterm Beifahrersitz deponiert ist. Normalerweise fährt sie ihren Mann zur Arbeit. An diesem Tag hat er beschlossen, zu Fuß zu gehen.
Schließlich der Anschlag auf das Springer-Haus in Hamburg. Der RAF-Terrorist Gerhard Müller sagt 1976 bei einer Vernehmung aus, Ulrike Meinhof habe die Idee gehabt und die Sprengsätze zusammen mit Siegfried Hausner und einem weiteren Mann im Gebäude deponiert.
Während linke Bevölkerungskreise die Anschläge auf US- und Behördeneinrichtungen noch akzeptieren können, werden die Attentate auf Richter Buddenberg und auf den Springer-Verlag einhellig verurteilt, denn in beiden Fällen sind Unschuldige die Leidtragenden. Im Jahr zuvor haben noch zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung in einer Umfrage gesagt, sie seien bereit, einen RAF-Terroristen bei sich zu verstecken. Doch die Stimmung schlägt um.
Und damit sind die Tage der ersten RAF-Generation gezählt. Dass in relativ kurzer Zeit sämtliche Führungspersonen der Terrorgruppe gefasst werden, liegt vor allem daran, dass bei der Polizei viele Hinweise aus der Bevölkerung eingehen:
Am 1. Juni 1972 erhält die Polizei einen Tipp, in welcher Frankfurter Wohnung sich Terroristen aufhalten sollen. In der dazugehörigen Garage nehmen die Fahnder schließlich Holger Meins und Andreas Baader fest.
Sechs Tage später wird Gudrun Ensslin in einer Boutique am Jungfernstieg verhaftet – die Geschäftsführerin hat in ihrer Jacke eine Pistole entdeckt und die Polizei gerufen.
Am 9. Juni werden Brigitte Mohnhaupt und ein Freund in Berlin festgenommen.
Unterdessen versuchen Ulrike Meinhof und Gerhard Müller in Hannover unterzutauchen. Eine Freundin besorgt ihnen bei einem Lehrer in Langenhagen eine Übernachtungsmöglichkeit. Der ahnt aber, um wen es sich bei seinen Gästen handelt, und informiert die Polizei.
Schließlich werden am 19. Juni 1972 in Stuttgart Siegfried Hausner und am 9. Juli in Offenbach Klaus Jünschke und Irmgard Möller festgenommen. Eine neue RAF-Generation wird versuchen, Baader, Meinhof, Ensslin & Co. aus der Haft freizupressen. Der Rest ist Geschichte.