Hamburger berichtet: Wie mich die Armut krank gemacht hat
Was bedeutet es, in Armut aufzuwachsen? Olivier David (33), Journalist und Ex-MOPO-Volontär, hat über seine Kindheit und Jugend in prekären Verhältnissen ein Buch geschrieben: „Keine Aufstiegsgeschichte“. Die MOPO sprach mit ihm über den Stress, den Armut verursacht, über psychische Erkrankungen und warum ihn ein bestimmter Kalenderspruch auf die Palme bringt.
MOPO: Wann hast du das letzte Mal bemerkt, dass du in Armut aufgewachsen bist, anders als viele andere Menschen?
Olivier David: Ich bin seit drei Monaten an der Uni, studiere kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – und das Uni-Leben ist mir total fremd. Auf den ersten Blick hat das erst mal nicht viel mit Armut zu tun, wenn man genau hinschaut, dann aber eben doch.
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Was bedeutet es, in Armut aufzuwachsen? Olivier David (33), Journalist und Ex-MOPO-Volontär, hat über seine Kindheit und Jugend in prekären Verhältnissen ein Buch geschrieben: „Keine Aufstiegsgeschichte“. Die MOPO sprach mit ihm über den Stress, den Armut verursacht, über psychische Erkrankungen und warum ihn ein bestimmter Kalenderspruch auf die Palme bringt.
MOPO: Wann hast du das letzte Mal bemerkt, dass du in Armut aufgewachsen bist, anders als viele andere Menschen?
Olivier David: Ich bin seit drei Monaten an der Uni, studiere kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – und das Uni-Leben ist mir total fremd. Auf den ersten Blick hat das erst mal nicht viel mit Armut zu tun, wenn man genau hinschaut, dann aber eben doch: Ich habe, und das taucht auch in den Lebensläufen anderer armer Menschen auf, keine genaue Ahnung davon, wie ich mir Informationen beschaffe, oder mir selbst helfen kann.
Woran liegt das genau?
Das hat mit einer geringen Selbstwirksamkeitserfahrung zu tun: Viele Menschen in Armut haben gemein, dass sie nicht die Erfahrung gemacht haben, dass sie etwas an ihren Umständen verändern können. Dafür fehlen an vielen Stellen nämlich schlicht die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Und das lähmt.
Du hast es aus einem armen und teilweise auch gewalttätigen Elternhaus an die Uni geschafft. Warum heißt dein Buch trotzdem „Keine Aufstiegsgeschichte“?
Vielleicht ist es in Teilen eine kleine Aufstiegsgeschichte, weil ich mir jetzt eine Stimme verleihe. Ich kann einer Zeitung einen Kommentar anbieten und der wird gedruckt – das konnte ich früher nicht, und auch viele Arme können sich selbst keine Stimme verleihen. Andererseits: Ich habe das Fachabitur abgebrochen und Zivildienst in einer Brennpunkt-Kita gemacht, während die Leute in meiner Klasse ihr Abi gemacht haben. Nach der Schule habe ich in einem Supermarkt gearbeitet und jahrelang täglich gekifft und getrunken. In dieser Zeit reisten die Leute aus meiner Klasse mit dem Rucksack durch Australien. Zwischen 18 und 30 habe ich in 15 verschiedenen Jobs gearbeitet, während andere anfingen zu studieren.
Aber jetzt studierst du.
Der Gedanke, wer studiert, der hat den Aufstieg geschafft, ist heutzutage zu einfach. Eine Uni zu besuchen, bedeutet längst nicht mehr, dass du zur Elite gehörst, oder auch nur in der Mittelklasse lebst. Du kannst trotzdem arm sein. Ich studiere einen kreativen Studiengang, der einen eher nicht in eine Festanstellung führt. Auch wenn ich Bücher schreibe, werde ich sehr wahrscheinlich dauerhaft prekär leben. Außerdem bin ich durch mein ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, d. Red.) nicht so belastbar wie andere.
Das Studienfach hast du dir ja ausgesucht.
Mir wurde mal gesagt, das sei voll mutig, dass ich so ein prekäres Leben wähle, um mich selbst zu verwirklichen, aber ich sehe das nicht so. Ich habe im Lager gearbeitet und als Malerhelfer den halben Hauptbahnhof angestrichen, aber ich kann solche Jobs nicht mehr machen, weil mir die Kraft dafür fehlt. Ich muss das machen, was ich wirklich gerne mache und das ist Schreiben! Insofern ist mein Buch vielleicht eine Ausstiegsgeschichte: Ich tausche den Raum, der mir gesellschaftlich zugedacht war, die Supermarktkasse oder das Lager, gegen den Schreibtisch.
Siehst du dich als Sprecher für arme Menschen?
Ich sehe mich als Lobbyist. Ich will mich mit dem Buch für mein Herkunftsmilieu einsetzen.
Thema Herkunftsmilieu: Du bist in Ottensen aufgewachsen. Wie war das?
Ottensen war in den 90er Jahren bunt gemischt, da wohnten Künstler:innen und Studierende. Es gab aber auch Straßenblöcke, die mied man lieber. Ein Mädchen aus meiner Schule ist umgezogen, weil neben ihrem Kinderzimmerfenster Schüsse die Hausfassade trafen. Gegenüber von uns lebten Familien, die sich Toiletten im Treppenhaus teilen mussten. Ich habe auch mal erlebt, wie ein Mann mit einer Stichverletzung vor meiner Wohnungstür stand und Hilfe brauchte – von der Situation schreibe ich auch in meinem Buch. Es gab aber auch Kinder, die wohnten nur ein paar Straßen weiter und sind ganz bildungsbürgerlich aufgewachsen.
Wie siehst du das Ottensen von heute?
Ottensen ist total gekippt, das ist kein gemischter Stadtteil mehr. Familien wie meine gibt es kaum noch. Wo einmal ein türkischer Brautmodenladen war, ist jetzt ein riesiger Kaffeetempel. Es gibt Boutiquen, da hängen nur fünf Mäntel im ganzen Laden und Bäckereien, die aussehen wie Showrooms. Und mittlerweile leben hier genug Menschen, die sich das leisten können.
Wohnt deine Mutter noch hier?
Sie ist vor einem Jahr nach 33 Jahren aus der Wohnung ausgezogen, in der ich großgeworden bin. Durch den Umzug konnte sie auch Abstand zur damaligen Situation bekommen – und das war wichtig für sie.
War das ein Aufstieg?
Ja, meine Mutter hat tatsächlich eine kleine Aufstiegsgeschichte hingelegt. Sie lebte lange in relativer Armut, aber seit fast zwei Jahrzehnten hat sie nun einen festen Job und konnte dadurch finanziell auf die Beine kommen. Aber sobald sie in Rente geht, wird sie sich wieder nur knapp über der Armutsgrenze halten können.
Du leidest unter psychischen Erkrankungen. Welche Rolle spielt die Armut dabei?
Arme Menschen sind nicht schwächer, sie haben einfach extrem viel mehr Stressfaktoren im Leben. Man ist ständig in Abwehrkämpfen gefangen, dauernd gellen die Alarmglocken im Kopf und dieser Stress provoziert psychische Krankheiten. Du fragst dich nicht: Was für ein Leben will ich führen, was will ich werden? Du machst nach der Schule kein Sabbatjahr, sondern fängst mit körperlicher Arbeit an.
Wie hat deine Mutter auf das Buch reagiert?
Bei meiner Mutter und meiner Schwester sind ein paar Tränen geflossen, sie haben aber zugestimmt, dass ich das alles veröffentlichen darf. Sie verstehen, dass ich sie nicht vorführen will, sondern erkläre, dass unsere Armut nicht individuelles Scheitern ist, sondern dass es anderen genauso geht.
Du warst auf der Waldorfschule, war das der kuschelige Gegenpol zur Gewalt zuhause?
Ich war eines von den Kindern aus armen Familien, die die Schule aufgenommen hat. Dass ich überhaupt dort war, lag daran, dass das Thema Schule meiner Mutter wichtig war und da sah sie für mich die größten Chancen. Die Schule kam aber nicht gegen meine Sozialisation an. Ich habe bis heute eine posttraumatische Belastungsstörung, weil ich als Kind in meiner Familie mit Gewalt konfrontiert war. Bis heute kann ich schreiende Männer nicht ertragen. Das hat mit meinem Vater zu tun.
Was kann Schule bei Kindern wie dir erreichen?
Schule kann das Chaos zuhause nicht auffangen. Natürlich gibt es immer wieder Kinder, die sich über Bildung herauskämpfen, das liegt aber dann an individueller Resilienz. Mir ist das nicht geglückt, ich hab die Schule ohne Fachabi verlassen. Übrigens im Gegensatz zu einem meiner Schulfreunde, der zum Abi zugelassen wurde, weil seine Eltern mit der Schulleitung verhandelt haben. Dass sowas geht, darauf wäre meine Mutter nie gekommen. Dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, das wissen arme Menschen oft nicht.
Scheitern kann ja auch eine Chance sein, heißt ein beliebter Kalenderspruch.
Dieser Satz regt mich so auf! Scheitern ist eine Chance, wenn du dir das Innehalten leisten kannst, um über das Scheitern nachzudenken. Arme Menschen können sich aber keine Zeit dafür nehmen, weil ihr Alltag viel zu stressig ist. Die scheitern einfach nur, Zeit, um daraus zu lernen, bleibt da nicht. Das ist ja auch gewollt. Diese Gesellschaft braucht Leute, auf die sie runtergucken kann. Die werden als Druckmittel gebraucht, damit alle funktionieren, um bloß nicht zu dieser Gruppe zu gehören.
Was muss passieren, damit weniger Kinder so aufwachsen wie du?
Wir müssen aufhören, Armut zu bekämpfen und damit anfangen, Reichtum zu bekämpfen. Deutsche Milliardäre sind durch Corona noch reicher geworden, während der Großteil der Gesellschaft Geld verloren hat. Jeden Tag findet eine riesige Umverteilung statt, von unten nach oben. Und das müsste so nicht sein.
Wie geht es jetzt für dich weiter?
Ich gehe zur Uni, versuche, schlauer zu werden und genieße es, mich zu bilden. Das habe ich ja lange Zeit von mir gewiesen, so nach dem Motto: Was ich nicht haben kann, will ich auch nicht haben. Und ich habe schon eine neue Buchidee.
Olivier David: „Keine Aufstiegsgeschichte“, Eden Books, 240 Seiten, 16,95 Euro