Von Hamburg bis Sunderland: Was Fußball für eine Hafenstadt bedeutet
Den schönsten Satz zur Katharsis im Volkspark sprach Stefan Kuntz, HSV-Vorstand und anscheinend auch HSV-Philosoph. „Es ist mir so vorgekommen, als hätte einer seit sieben Jahren eine große Champagnerflasche geschüttelt – und heute hat einer den Korken aufgemacht“, sagte er.
Ich gehe gerne zum Fußball, schon immer, doch ich staune auch immer, wenn Erwachsene wegen eines Spiels die Contenance verlieren. Von Tribünen springen, Tore zerlegen oder den Rasen auseinanderpflücken. Oder wenn Familienväter weinend in sozialen Medien verkünden, dass es der „schönste Tag des Lebens“ gewesen sei. Nicht die Geburt der Kinder, nicht die Hochzeit, nicht diese besondere Reise in den Ferien.
Sondern ein 6:1 gegen den SSV Ulm 1846.
Ein Fußballverein meint heute mehr als Sportklub. Er bedeutet in einer zerfasernden Welt Zugehörigkeit und eine Projektionsfläche. Jeder Verein ist eine Marke, die eine Geschichte erzählt. Bayern München: Konsequent erfolgreiche und unsympathische Privatjetflieger. VfL Bochum: Hart arbeitende liebenswerte Loser. Sankt Pauli: Wertebewusste Berufsaußenseiter mit Hang zur Klugscheißerei.
Manche Fußballvereine haben den Status einer Ersatzreligion
Manche Vereine haben den Status einer Ersatzreligion, und nirgendwo wurde mir das so bewusst wie bei einem Besuch in Sunderland. Einst die Heimat von Werften und Kohle ist die Hafenstadt im Nordosten Englands heute vor allem: deprimierend. Jedes dritte Kind lebt in Armut.
Was übrig blieb vom einstigen Glanz ist der „Association Football Club“, dessen Arena wirklich „Stadion des Lichts“ heißt. Es liegt wenige Hundert Meter von der Mündung des Flusses Wear in die Nordsee entfernt, in direkter Nachbarschaft einstiger Docks. Der Verein wurde zu einem Symbol für Stolz und Erinnerung: „Sunderland ‘Til I Die“ heißt die Dokumentation auf Netflix. Sunderland, bis ich sterbe.

Der Autor: Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeireporter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie „Max“, „Stern“ und „GQ“ von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“ gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop. Weitere Bücher gibt es im Ankerherz-Shop – zum Beispiel „Das kleine Buch vom Meer – Helden“ oder „Mayday – Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze“.
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Aber auch hier: Abstieg, bis runter in die dritte Liga. Seit das Geld eines Milliardärssohns, Mitte 20, im Spiel ist, geht es wieder aufwärts. Derzeit kickt der Verein um den Aufstieg in die Premier League. Als die Kamera kurz vor Schluss des Play-off-Halbfinals die Tribüne zeigte, sah man Zuschauer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Männer, die ihr Gesicht in den Händen verbargen. Nägelkauer. Verzweifelte. Eine Frau weinte, als wäre sie auf einer Beerdigung.
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Dann: Ausgleich in den letzten Sekunden der Nachspielzeit! Die Kamera erzitterte, weil das Stadion wackelte. Massenhysterie. Der Moderator des vereinseigenen Internetsenders, auf dem ich das Spiel verfolgte, verfiel in eine Mischung aus Geschrei, Gestöhne und Gebrabbel.
Das war keine Champagnerflasche, die sieben Jahre lang geschüttelt wurde. Das waren sämtliche Schiffskessel, die jemals in Sunderland gebaut wurden und denen in einem Moment die Ventile wegflogen.
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